Einer wie er, der muss doch Feinde haben. Oder Neider. Hat Siegfried Lenz aber nicht - warum nur? Eine Würdigung zu seinem 85. Geburtstag.

Hamburg. "Man schreibt eigentlich nur von sich selbst", hat Siegfried Lenz kürzlich gesagt. Natürlich. Schließlich kann man nur aufschreiben, was man selbst beobachtet, weiß, erfährt und erkennt. Da Literatur immer auch etwas über den Charakter desjenigen erzählt, der sie erschafft, können wir durch Lenz' Werke einen Blick auf den leisen, klugen und humorvollen Menschen erhaschen, dessen schriftstellerisches Werk mehr als 10 000 Seiten umfasst - Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays. 30 Millionen Bücher hat er verkauft. Heute wird Siegfried Lenz 85 Jahre alt.

Was also erzählt sein Werk über ihn? Dass Lenz ein nachdenklicher, bescheidener, gerechtigkeitsliebender Mensch ist. Ein Mann, dem Geschichten oft dazu dienen, Geschichte lebendig werden zu lassen, erfahrbar und sinnlich. Fischer wollte Lenz ursprünglich werden "oder Spion", wie er sagt. Einen stillen Beruf ausüben. Dazu passt, dass er leidenschaftlicher Angler ist, gerne aufs Wasser schaut und zeit seines Lebens Pfeife raucht. Vom Mann, der ständig mit der Faust auf den Tisch haut, vom polternden Lärmbolzen, nervösen Sprinter, eitlen Pfau oder Partytiger hat Lenz nichts, wirklich nichts. Als "liebenswürdig, behutsam, freundlich, loyal, nachsichtig" bezeichnen ihn seine Freunde, zu denen Marcel Reich-Ranicki und Helmut Schmidt zählen. "Er behandelt seine Figuren mit einem Feingefühl, das man in der Weltliteratur nur selten findet", sagt ein anderer Freund, der israelische Autor Amos Oz. Lenz scheint, und das ist ungewöhnlich im Literaturbetrieb, keine Feinde und Neider zu haben.

Lenz, in Ostpreußen geboren und nach dem Krieg in Hamburg, Schleswig-Holstein und Dänemark zu Hause, ist geradezu die Verkörperung des typischen Norddeutschen. Und das nicht nur wegen seiner stahlblauen Augen. Einer seiner ersten Romane, der 1957 veröffentlichte "Der Mann im Strom" spielt im Hamburger Hafen und schildert im Stil des symbolischen Realismus, dass ein Taucher sich jünger macht, um weiterarbeiten zu können. (Die Verfilmung mit Jan Fedder wird heute Abend um 21.45 Uhr im NDR Fernsehen gezeigt.) "Wenn Menschen alt sind", erklärt Held Hinrichs im Roman seinem Sohn, "dann sind sie heute nichts mehr wert." Geradezu prophetisch erscheint das 50 Jahre später, angesichts des heutigen Arbeitslebens, das mehr und mehr dem Jugendwahn verfallen ist, aber bald schon viel zu wenig jungen Nachwuchs haben wird.

Man erfährt etwas über einen Menschen, weiß der Autor Lenz, "wenn man ihn einem Konflikt aussetzt, einer Überprüfung". Bei Lenz wird der Einzelne, der Hilf- und Wehrlose, häufig mit den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft konfrontiert. Es sind Ausnahme- und Grenzsituationen, seine Helden sind fast ausnahmslos "kleine Leute".

Das, was den großen Erzähler ausmacht, von sich abzusehen, sich etwas vorzustellen, andere Lebensmodelle effektvoll zu entwerfen, das beherrscht Lenz wie kein Zweiter in Deutschland. So hat er seinen Lesern 1968 seinen größten Erfolg nahegebracht, als er in die "Deutschstunde" den jungen Siggi (!) bei einer Strafarbeit über den Begriff der Pflicht nachsinnen lässt. Im Konflikt zwischen einem Maler und dem Dorfpolizisten schafft er im Polizisten das Sinnbild eines Deutschen, dem Pflichterfüllung vor Menschlichkeit geht. So führte Lenz vor, wie die Nazi-Ideologie auch im Nachkriegsdeutschland noch lebendig war. Amos Oz, Israels unermüdlich um Frieden im Nahen Osten bemühter Nobelpreiskandidat, nennt die "Deutschstunde" eines der wichtigsten Bücher der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Es ist ebenso einfach wie anspruchsvoll. "Lenz ist ein Maler", sagt Oz. "Er malt mit Worten."

Die großen deutschen Nachkriegsautoren Böll, Grass, Walser und Lenz sind alle politische Autoren. Doch während Böll sich das Katholische zu Hilfe nimmt, Grass den Zeigefinger und Walser sein hitziges Temperament mal hier, mal dort Welterklärungen suchen lässt, besinnt sich Siegfried Lenz ganz aufs Nachdenkliche, aufs Ergründen, Beschreiben von geradezu moralischen Versuchsanordnungen. Das, was ihn zum Volksschriftsteller macht, ist nicht nur die Thematik seiner zeithistorisch aufgeladenen Romane über Durchschnittsmenschen. Sondern es ist eine Mischung aus Nachdenklichkeit, Humor und Melancholie. "Literarisch halte ich es für einen sehr guten Vorwand, wenn jemand enttäuscht von der Welt ist", sagt Lenz. Zorn über das, was ist, und Mitleid mit denen, die nicht zu den Gewinnern zählen, ist es denn wohl auch, das seinen Büchern zu so großer Beliebtheit verhilft. Lenz' 15 Romane und seine mehr als 170 Erzählungen wurden in 35 Sprachen übersetzt. Für Amos Oz ist Lenz "das Gewissen Deutschlands".

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"Die vielen Zwischentöne, die er beherrscht, das ist die Stärke seines Schreibens", sagt Günter Grass über Siegfried Lenz. In "Exerzierplatz" etwa begegnen wir einer Flüchtlingsfamilie, die mit ihrer bescheidenen, loyalen Art im skrupellosen modernen Deutschland nicht Fuß fassen kann. Seinen literarischen Durchbruch hatte Siegfried Lenz mit seinen masurischen Erzählungen "So zärtlich war Suleyken". In den 20 Geschichten wird deutlich, was Siegfried Lenz' Werk auch später auszeichnete: Der miterlebende Erzähler, dessen Sprachstil geschickt Naivität vortäuscht, trifft damit den Ton seiner Helden, jener Charaktere, die in erfrischend unintellektueller Nachdenklichkeit über die elementaren Dinge des Lebens sinnieren. Ja, und der verschmitzte Humor, der Lenz auszeichnet, der gehörte schon damals dazu.

2002 wurde Siegfried Lenz Ehrenbürger von Hamburg. 2008 landete er mit "Die Schweigeminute" und dem für ihn neuen Thema einer Liebesgeschichte einen weiteren Bestseller. Derzeit schreibt Siegfried Lenz an einem neuen Roman mit dem Titel "Die Maske". Das Schreiben sei im Alter kein bisschen leichter geworden, erklärt er. Doch seine Schaffenskraft ist ungebrochen.

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