Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina feiert heute ihren 80. Geburtstag. Experimentell war sie als Kind, experimentell ist sie geblieben.

"Schon als Kind habe ich bei meinem Klavier immer gerne den Deckel geöffnet und dann auf den Saiten improvisiert - natürlich ohne dass die Lehrer das wussten. Es war zum Glück kein guter Flügel, sonst hätten es meine Eltern vielleicht verboten." Haben sie aber nicht. Und so konnte Sofia Gubaidulina ihrer Experimentierfreude freien Lauf lassen. Die hat ihren Schaffensprozess auch als Erwachsene geprägt. Heute wird die Komponistin, deren blitzende Augen ihr noch immer eine mädchenhafte Aura geben, 80 Jahre alt.

Mitte der 1970er-Jahre traf sich Sofia Gubaidulina mit befreundeten Musikern in Moskau, um gemeinsam auf Volksinstrumenten neue Klänge auszuprobieren. Diese Forscherlust ist ihren Werken deutlich anzumerken. In der Johannes-Passion etwa, die 2002 im Hamburger Michel aufgeführt wurde, entsteht durch mikrofonverstärkte Pinselstriche auf Klaviersaiten ein faszinierend fremdartiger, fast synthetisch wirkender Sound-Effekt. Beim 2008 vollendeten Stück "Pentimento" lässt sie die Gitarristinnen auf den Saiten schaben und glitschen, während der Kontrabassist in höchsten Höhen herumfiept. Diese neuen und ungewohnten Eindrücke waren erst kürzlich im Porträtkonzert der Freien Akademie der Künste zu hören.

Ihrer sehr eigenen Klangsprache verdankt Sofia Gubaidulina den Rang als größte lebende Komponistin. Sie bekam bedeutende Auszeichnungen bis hin zum Polar Music Prize, der gern als der Nobelpreis der Musik bezeichnet wird. In diesem Jahr ehren Los Angeles, Amsterdam, Hannover und auch Moskau sie mit mehrtägigen Festivals.

***Sehr unberühmt, sehr unaufgeführt***

Dabei hat sie in Moskau ganz andere Zeiten erlebt. Sowjetischen Kulturpolitikern war Gubaidulinas avantgardistische, von Anton Webern beeinflusste Musik einst ein Dorn im Ohr. Viel zu düster und "formalistisch", lautete das Urteil. Einige Stücke schlummerten Jahrzehnte in der Schublade, weil sie nicht aufgeführt werden durften. "Teilweise wurde meine Arbeit von Menschen kritisiert, deren einziges musikalisches Talent in der Leitung von Militärkapellen bestand", erinnert sich Gubaidulina.

Aber es gab auch positive Signale. 1959 traf sie den von ihr bewunderten Dmitri Schostakowitsch, der die Situation nur zu gut kannte und ihr wünschte, sie möge "auf ihrem eigenen falschen Weg weitergehen". Ein wichtiger Zuspruch für die damals 28-jährige Komponistin. Sie musste so manche Krise überstehen und hielt sich mit Filmmusiken über Wasser. "Verzweifelt war ich oft - wegen der Situation. Aber Zweifel an meiner künstlerischen Linie hatte ich nie."

Ihre Unbeirrbarkeit fußt auch auf einem tiefen Gottvertrauen. Als Enkelin eines muslimischen Mullahs und Schülerin eines jüdischen Lehrers war die tatarisch-russische Komponistin aus Tschistopol schon in jungen Jahren mit verschiedenen Glaubensrichtungen in Berührung gekommen, bevor sie sich für die Hinwendung zum Christentum entschied.

Religiöse Botschaften spiegeln sich in Werktiteln wie "De profundis" für Bajan (1978), der "Johannes-Passion" für Soli, zwei Chöre und Orchester (2000) oder auch dem Violinkonzert "Offertorium". Mit der Uraufführung dieses Stücks, das ein Thema aus Bachs "Musikalischem Opfer" aufgreift und satztechnische Dichte mit sinnlicher Expressivität vereint, bescherte ihr der Geiger Gidon Kremer im Jahr 1981 den internationalen Durchbruch.

1992 übersiedelte Sofia Gubaidulina nach Appen bei Hamburg. In der selbst gewählten Einsamkeit des Dorfes sucht und findet sie den Kontakt zur Natur als Inspirationsquelle. "Das ist für mich eine Art geistige Nahrung", bekannte sie beim letzten, schon einige Zeit zurückliegenden Besuch. "In langen Spaziergängen gelingt es mir, mich zu versenken und in der Stille zu hören, was in der Welt und im Universum klingt - mithilfe von Sonne, Himmel und Bäumen." Von einer spirituellen Naturverbindung angeregt, empfindet Sofia Gubaidulina auch ihr eigenes Wirken als organische Tätigkeit: "Ich baue nicht, ich züchte. Wie bei einem Lebewesen, das von vornherein in seiner Ganzheit da ist, höre ich auch schon vom ersten Moment an das Ganze - das ist etwas vollkommen anderes als bei einem Bau, wo man zuerst das Fundament schafft und dann nach und nach die anderen Stockwerke hinzufügt."

Auf den Trubel um ihre Person reagiert Sofia Gubaidulina bescheiden, zurückhaltend, abwehrend. Rufe von Musikhochschulen als Professorin für Komposition lehnt sie ab, sie will unabhängig bleiben. Weil sie, wie es heißt, jede Minute zum Schreiben braucht, hat sie Journalisten schon seit Monaten nicht mehr bei sich zu Hause empfangen. "Ich liebe diese Zeit, in der kein Mensch, keine Pflicht um mich herum ist. Das sind für mich die glücklichsten Momente, wenn ich einfach nur arbeiten darf." Mögen ihr noch viele solche Momente vergönnt sein. Die Liste mit Kompositionsaufträgen ist lang.

Sofia Gubaidulina - Porträtkonzert, So 30.10., 18.00, Rolf-Liebermann-Studio (U Hallerstraße), Oberstraße 10, Tickets unter T. 0180/178 79 80