Sein gerade erschienenes Soloalbum “Noel Gallagher's High Flying Birds“ macht da weiter, wo Oasis aufgehört haben: mit formidablen Popsongs.

Hamburg. Zugegeben: Sympathie und Wohlwollen sind im Falle der Gallagher-Brüder klar verteilt. Musikerkollege Mark E. Smith hat neulich seine Einschätzung der Lage mitgeteilt: Liam werde bald Obdachlosenzeitungen verteilen, während Noel im Porsche vorbeifahre. Wahrscheinlich hat Liam, der jüngere der beiden Brüder, die sich einst als Oasis durch die Charts rüpelten, in seine Benson-&-Hedges-Zigarettenschachtel gebissen, als er das las.

Noel Gallagher dürfte smart gegrinst haben. Bis ihm dann einfiel, dass er ja gar keinen Führerschein hat. Tatsache! Der beste englische Songwriter der vergangenen 20 Jahre braucht immer jemanden, der ihn chauffiert. Durch die Geschichte der Popmusik hat sich Gallagher, 44, stets so sicher navigiert, als hätte er ein Kapitänsdiplom. Und stets hat er dabei die glorreichen 60er- und 70er-Jahre belehnt. Sein gerade erschienenes erstes Soloalbum "Noel Gallagher's High Flying Birds" macht da weiter, wo Oasis irgendwann Ende der 90er mal aufgehört haben: mit formidablen Popsongs.

Noel Gallagher galt als das Genie von Oasis ("Wonderwall", "Live Forever"), und deswegen überrascht es keineswegs, dass sein Post-Oasis-Werk das deutlich konzisere, reifere ist. Die Band trennte sich vor zwei Jahren im großen Bruderzwist. Vor einigen Monaten debütierte Beady Eye, die jüngste Oasis-Formation, minus Noel. Deren "Different Gear, Still Speeding" war überraschend gut. "Noel Gallagher's High Flying Birds" ist, wenig überraschend, sehr gut. Der ältere Gallagher hat einige seiner besten Songs in den vergangenen Jahren zurückgehalten - der kluge Mann sorgt vor. Das erklärt die Mittelmäßigkeit der Oasis-Alben und die Vielzahl von Noel-Songs, die als Demoversion im Netz kursierten und jetzt auf der neuen Platte sind.

***Oasis-Bruderkrieg eskaliert: Liam und Noel streiten vor Gericht***

***Noel Gallagher ist der König, alle Vögel fliegen hoch***

"Everybody's On The Run", das erste Stück des Albums, ist ein opulenter Sehnsuchtsfetzen und gleich, neben dem pianogetriebenen "Aka... What A Life", der Höhepunkt. Textlich backt Gallagher kleine Brötchen, musikalisch posiert er mit dicken XXL-Laiben Vollkornbrot. Wir hören Streicher. Sie kleistern die meist im Midtempo gehaltenen Kompositionen nicht zu, sondern werden mehr oder weniger fein hineingetupft. Die Produktion ist sehr gelungen. "I Record Machine" ist ein alter Song, Gleiches gilt für "If I Had A Gun ..." und das fast mythische "Stop The Clocks". Noel Gallagher ist längst auf dem Coolness-Level Paul Wellers angekommen, und er hat mit den Kinks seine Blaupause für die mittleren Karrierejahre gefunden. "The Death Of You And Me" jedenfalls ist in Wirklichkeit bestimmt von Ray Davies. Man weiß noch nicht so recht, was man von Gallaghers Kinks-Begeisterung halten soll. Aber alles besser als Daddyrock.

Im Januar soll schon das nächste Noel-Album kommen. Er darf so weitermachen wie auf "Noel Gallagher's High Flying Bird's", sollte aber Schmonzes wie "Soldier Boys And Jesus Freaks" weglassen. So, und nun zur Frage aller Fragen: Fehlt Liams röhrende Stimme eigentlich? Ja, durchaus, aber nur ab und an.

Noel Gallagher: "Noel Gallagher's High Flying Birds" (Indigo)