Niemand wusste von seinen Fluchtplänen. Die Freiheit zu schreiben war Liao Yiwu wichtiger. Ein Gespräch über China, die Kunst und seine Zukunft

Berlin. Am vergangenen Mittwoch ist er in Berlin angekommen, geflohen aus seiner Heimat China über Hanoi und Warschau: Liao Yiwu, 54, Autor bitterer sozialkritischer Reportagen, Untergrundmusiker und Poet, Regimekritiker und Ex-Häftling, der wegen eines Gedichts über das Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 für vier Jahre inhaftiert war. Kurz vor dem Abendblatt-Gespräch beantwortet er am Handy geduldig die Fragen eines Bloggers in China, der die Nachricht von der geglückten Ausreise und seine Gründe dafür im Internet verbreiten will. Der Mann mit dem mönchisch kahlen Schädel wirkt - zwei Tage nach seiner Ankunft in der Freiheit - gelöst. Selbst wer ihn genauer kennt, spürt nur selten, dass sein Herz schwer ist. Denn auch mit einer Träne im Augenwinkel kann Liao über die neue Wendung, die er seinem Leben gegeben hat, manchmal schon wieder lachen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Liao, im vergangenen Herbst waren Sie zuletzt in Hamburg und lasen beim Harbour Front Literaturfestival aus Ihrem Werk, es war Ihre erste Auslandslesung. Wollten Sie so schnell wieder nach Deutschland kommen?

Liao:

In China wird inzwischen ein sehr harter Kurs gefahren; wenige Wochen nach meiner Rückkehr im November 2010 fing die Polizei an, meine Freiheit immer weiter zu beschneiden.

Wie müssen wir uns das konkret vorstellen?

Liao:

Vor dem Haus standen Polizeiwagen, die Polizisten haben immer wieder geschaut, ob ich zu Hause bin. Sie bestellten mich zu vielen "Tee trinken"-Terminen (Synonym für Einschüchterungsgespräche, d. Red.). Sie wussten, dass der Fischer-Verlag mein zweites Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" veröffentlichen will, meinen Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen. Sie sagten mir: Wenn du das nicht aufgibst, kommst du wieder ins Gefängnis. Reisen nach Amerika und Australien wurden nicht genehmigt. Man befahl mir, in Chengdu zu bleiben. Ich war also eine Büchergeisel, weil Fischer fürchtete, dass mir etwas passiert, wenn das Buch doch herauskommt. Jetzt kann es endlich erscheinen. Ich wollte nicht länger Geisel für mein Buch sein. Die Freiheit zu schreiben ist mir wichtiger als alles andere. Wäre ich in China geblieben, hätte ich nirgendwo mehr frei publizieren dürfen.

Standen Sie unter Hausarrest?

Liao:

Mal durfte ich mich nur im Stadtteil bewegen, mal zwei Wochen meine Wohnung nicht verlassen. Ich musste bei der Polizei anrufen, wenn ich aus meiner Vorstadt nach Chengdu wollte. Das Internet war gekappt, mein Handy zeitweise abgestellt.

Was hat diese Drangsalierung bewirkt?

Liao:

Ich habe mich (er lacht) in die Bücher der chinesischen Klassiker zurückgezogen, in das "I Qing", in das "Shiji", das erste Buch über die chinesische Geschichte von Sima Qian, dem es ja auch nicht besonders gut gegangen ist (er wurde kastriert und für Jahre ins Gefängnis geworfen, d. Red.). Ich hoffe, dass es mir nicht so schlecht gehen wird wie diesem Vorfahren im Geiste. Ich habe auf meiner Xiao geflötet, mit meiner Klangschale meditiert. Es scheint Karma zu sein, da muss man das Denken über das Warum abstellen. Es bringt nichts.

Wie war das mit der Ausreise?

Liao:

Immer kurz vor dem 4. Juni (Jahrestag des Tiananmen-Massakers, d. Red.) wird die Sicherheitspolizei sehr nervös. In der zweiten Maihälfte haben sie mich gefragt, ob ich "freiwillig" aus Chengdu fortgehen würde - für einige Zeit nach Dali in der Provinz Yunnan. Sie hatten Angst, weil dann jedes Mal Journalisten oder Dissidenten zu mir kommen. Ich habe also eine Zugfahrkarte für mich und meine Freundin gekauft. In Dali waren wir fast einen Monat, ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.

Und wie haben Sie China verlassen?

Liao:

Am 29. Juni bin ich allein mit der Bahn nach Kunming gefahren. Dort habe ich mir beim vietnamesischen Konsulat ein Touristenvisum besorgt, dann ging's weiter nach Hekou, an der Grenze zu Vietnam. Dort ging ich zu Fuß über die Grenzbrücke. Ich hatte Glück. Von Hanoi bin ich über Warschau hierhergeflogen.

Mit wem haben Sie darüber vorher gesprochen?

Liao:

Mit niemandem. Nicht einmal mit meiner Freundin.

Konnten Sie inzwischen telefonieren?

Liao:

Wir hatten E-Mail-Kontakt, zum Telefonieren bin ich noch nicht gekommen.

Haben Sie Hoffnung, dass sie auch ausreisen darf?

Liao:

Sie sollte in ihrem Leben nicht mehr durch mich behindert werden. Wenn sie mit mir zusammen ist, hat sie ein sehr hartes Schicksal. Ob sie kommt, weiß nur der Himmel. Aber vielleicht kann ich ja nächstes Jahr schon wieder zurück. Dann gibt es ja einen Wechsel in der Regierung ...

Wer wird Ihnen hier fehlen?

Liao:

Meine Kumpane, auch die aus der Unterschicht, mit denen ich immer Schnaps trinke. In China sind Schnapsbrüder gute Menschen. Sie trinken und trinken, und wenn sie genug getrunken haben, können sie sich nicht mehr verstellen und sagen offen, was ihnen nicht passt. Weil es ihnen reicht mit der schlechten Regierung. Wären 60 Prozent der Menschen in China solche Schnapsbrüder, gäbe es längst Demokratie.

Und Ihr Freund Liu Xiaobo, der Friedensnobelpreisträger im Gefängnis?

Liao:

Wir haben seinen Preis als Bestätigung der Demokratiebewegung von 1989 verstanden. Den Intellektuellen hat das Mut gemacht.

Hatten Sie Kontakt zu Liu?

Liao:

Er hat das Vorwort zu meinem neuen Buch geschrieben. Aber ich habe in der ganzen Zeit nicht mal Liu Xia erreichen können, seine Ehefrau. Sie ist komplett von allen Kontakten abgeschnitten.

Welche Rolle spielt denn die sogenannte "Jasmin-Revolution" die im Frühjahr den arabischen Raum ergriff?

Liao:

Eigentlich ist das ein Computerspiel. Sie existiert nur virtuell im Netz, aber die Polizei ist ständig in Alarmbereitschaft, weil sie fürchtet, dass die Leute sich auch in der Wirklichkeit treffen. Das ist selbst im Netz gefährlich - es gibt in China ein neues Verbrechen, das heißt wörtlich "Maus-Straftat".

Aber die Menschen haben sich auch in der Wirklichkeit getroffen, heißt es.

Liao:

Also ich habe - und ich kenne viele kritische Leute - bisher keinen getroffen, der bei so einer Versammlung war, keinen einzigen. Aber viele, die bei dieser virtuellen Revolution mitmachen, um die Polizei von einem Ort zum anderen zu jagen.

Was regt die Menschen am meisten auf?

Liao:

Die Zwangsumsiedlungen. Das zweite Hauptärgernis sind Preiserhöhungen. Die Lebensmittelpreise sind in acht Jahren um das Doppelte gestiegen.

Denken Sie, dass Sie es noch erleben werden, dass sich Ihre Heimat China zur Demokratie öffnet?

Liao:

Die Demokratie muss schnell kommen, in drei oder vier Jahren, und nicht erst, wenn ich alt bin. Wenn sie später kommt, ist China nur noch ein Müllplatz.

Was meinen Sie damit?

Liao:

China ist zu einem Müllplatz geworden, weil die Staatsmacht wie verrückt Leute einlocht und verschwinden lässt. Dadurch gibt es keine innere Sicherheit, es sind chaotische Zustände, auch die Aufstände der Bürger stiften Unordnung. Die Umweltprobleme werden immer krasser, dazu kommt die mangelnde Sicherheit der Lebensmittel. Wasser ist knapp und oft gesundheitsschädlich, im Fleisch findet man oft gefährliche Gifte, die Babymilchskandale sind bekannt.

Gibt es denn öffentliche Proteste?

Liao:

Sehr starke, im Juni hatten wir unzählige Unruhen. Auch in Chengdu. Vor allem Schlägereien mit der Polizei, und es gab viele Fälle, wo Leute sich selbst verbrannt haben. Die Beamten vom städtischen Verwaltungs- und Ordnungsamt hatten häufig brutale Auseinandersetzungen mit den Bürgern. Viele Leute werden von der Aufsicht aufgegriffen oder plötzlich abgeholt, verschwinden, werden eingesperrt. Die Bürger machen ihrem Unmut Luft, indem sie Leute aus dieser Behörde angreifen und mit ihnen abrechnen.

Aber es werden doch ganze Städte neu gebaut, die Wirtschaft floriert, China steht finanziell sehr stark da. Ist das keine erfolgreiche Politik?

Liao:

Dieser Reichtum und dieser Erfolg kommt beim Volk nicht an. Sie haben damit nichts zu tun, haben nie teil daran, sind nie die Nutznießer.

Wer sind die Hoffnungsträger?

Liao:

Was mir Hoffnung gibt, zeigt der Raubkopienmarkt in China, da gehört mein Buch zur dritthäufigst gelesenen Gruppe von Büchern. Auf Platz eins steht Pornografie. Auf Platz zwei stehen interne Informationen aus Regierungskreisen - Berichte über Mao Zedong, Jiang Zemin und Hu Jintao. Das lesen Leute, die schwarz Bücher kaufen, die einen unabhängigen Geist haben und die Regierung kritisieren. Auf Platz drei stehen bei diesen Leuten Bücher, wie ich sie schreibe. Dass solche sozialkritischen Reportagen gelesen werden, zeigt: Die Leute sind in ihren Herzen noch nicht abgestorben.

Wovon werden Sie hier im Westen leben?

Liao:

Ich habe meine Leser. Meine Bücher gibt es auch in Amerika, aktuell "Gott ist rot" über die Repressalien der Kommunisten gegen die Christen in China. "Für ein Lied und hundert Lieder" kommt auch in Australien heraus.

Sie sind im Westen von fast allem abgeschnitten, woraus Sie in China Literatur gemacht haben.

Liao:

Das sehe ich anders. Ich habe ja kein politisches Asyl beantragt. Ich hoffe, das ist jetzt nur eine kurze Phase hier, und dass ich in naher Zukunft wieder nach China gehen kann. Aber da müssen die Dinge ihren Lauf nehmen.

Haben Sie schon angefangen, Deutsch oder Englisch zu lernen?

Liao:

Nein. Chinesisch ist schon schwer genug (lacht) .