Kaum ist ein Roman auf dem Markt, hat er schon den nächsten fertig. Martin Walser über den Glauben an Gott, die Liebe, das Schreiben - und die Frauen.

Hamburg. Böll, Grass, Walser hieß im Nachkriegsdeutschland die Trias der Großschriftsteller. Diese Autoren lieferten jahrzehntelang Romane über das Befinden der Deutschen. Walsers Figuren waren typische Angestellte, Antihelden, die schwächelten, ob in Ehe oder Beruf. Inzwischen geht es Walser in seinen Romanen um die letzten Dinge des Lebens, um Altern, Tod und Glaube. 84 Jahre alt ist er jetzt und irgendwie immer noch ein Kraftbolzen. Als junger Mann soll er Fingerhakeln mit Bauarbeitern gemacht und immer gewonnen haben. Darauf angesprochen lächelt er milde, mit einem "es war einmal Stolz" im Blick. An einem der letzten heißen Sommertage treffen wir ihn im Hamburger Literaturhaus, wo er erst mal ein Bier zischt und sich dann intensiv der Reporterin zuwendet. Kräftige Hände hat er immer noch. Den Arm der Reporterin muss er einfach ganz oft drücken.

Hamburger Abendblatt: Wie sehr hat man aus Ihrem aktuellen Roman "Muttersohn" , über dessen Hauptfigur ein Rezensent schrieb, er sei "das Jesusähnlichste, was die deutsche Literatur seit Jahren zuwege gebracht hat", auf Ihr jetziges Befinden zu schließen?

Martin Walser: Na ja. Ein Roman ist immer das Gesamtporträt der Person, die ihn schreibt. Ich muss die Personen, über die ich schreibe, lieben. Das gelingt einem ja bei sich selbst auch nur manchmal. Ich habe in "Muttersohn" kein bisschen weniger Biografie gezeigt als in meinen anderen Romanen.

Früher waren das Ehemänner in seelischen Nöten. Jetzt ist das ein "engelsgleicher" Held.

Walser: Aber es darf sich doch etwas in einem Leben ändern. Zum Glück kann ich ja nichts dafür, was mir einfällt, oder? Das suche ich mir doch nicht aus. Ich bin geradezu glücklich, wenn ich so einen Buben wie den Percy aus "Muttersohn" habe, einen freundlichen, offenen, hellen Charakter. Statt dieser gequälten Mittelstandshelden aus meinen früheren Romanen, die nachts nicht schlafen können, weil ihr Chef nicht an sie denkt. Über Percy heißt es schon in der zehnten Zeile: "Furcht und Ungeduld waren ihm fremd." Also bitte, das ist ein Programm, dem muss ich hinterherschreiben. Was heißt denn "jesusähnlich"? Das ist doch die Formulierungsnot eines Kulturfeuilletons.

Wie wichtig ist das Thema Glauben für Sie?

Walser (drückt weiter auf den Unterarm der Interviewerin): Ich mach immer so an Ihnen rum, weil mir das hilft. Also, ich rede jetzt handwerklich. Percy brauchte einen Chef. Und der sollte ja auch etwas Wichtiges haben. So hat es sich ergeben, dass der Chef über den Glauben mehr sagen kann als der Percy. Der ist eher Theoretiker und Percy ein Praktiker. Der Chef sagt Sätze wie "Wir glauben mehr, als wir wissen". Das hat mir geholfen, weil mir die naive Empfindungsart von Percy nicht für eine Veröffentlichung gereicht hätte. Der Chef, Feinlein, verarbeitet viel von dem, was ich gelesen, gedacht und empfunden habe. Ich habe ja schon immer davon geschrieben, dass der Glaube kein Besitz ist, den man ein für alle Mal hat, sondern in jedem Augenblick widerrufbar ist. Glaube ist nicht festzuhalten. Es gibt auch Menschen, wenn sie das Wort Glaube hören, denken sie, sie müssten in eine Kongregation eintreten und Glaube habe mit ihnen nichts zu tun.

Das Thema Glaube entfacht spannende Diskussionen. Ich bin beispielsweise nicht gläubig.

Walser: Moment mal. Glaube hat doch nicht nur mit religiösem Geschehen zu tun. Glauben Sie nicht an die Liebe?

Doch. Weil ich's möchte.

Walser: Sehen Sie. "Wir glauben mehr, als wir wissen" erstreckt sich weit über das Religiöse hinaus. Glauben können ist wie musikalisch sein. Und manchmal kann man glauben, im nächsten Augenblick nicht.

Sind Sie heute gläubiger, als Sie es als junger Mann waren?

Walser: Nein. In "Muttersohn" sagt der Feinlein: "Der Glaube macht die Welt schöner, als sie ist. Einverstanden?" Und Percy sagt: "Das ist unsere wichtigste Begabung, dass wir etwas schön finden können. Einverstanden?" Und ich ergänze: Mir ist die Genesis wichtiger als der Urknall. Ja, das ist mir das Wichtigste, die Schönheit. Eine Schubert-Messe, das ist einfach schön. Basta. Dass wir in Europa diese Tradition haben, das ist einfach großartig. Mit dem Glauben hängt alles zusammen.

Ist das ein gesellschaftlicher Kommentar zum Thema Alleinerziehende, dass Ihr Muttersohn keinen Vater hat?

Walser: Es ist schöner, wenn man keinen Vater hat.

Warum?

Walser: Weil man sich nicht vorstellen will, dass die eigene Mutter mit diesem Mann geschlafen hat.

Das ist aber ein sehr männlicher Blick. Töchter lieben meist ihren Vater sehr. Eine andere Frage: Welche Rolle spielt Ihr Alter beim Schreiben?

Walser: Solange ich Bücher schreibe, die ich zehn Jahre vorher nicht hätte schreiben können, stelle ich fest, dass ich in jedem Alter andere Bücher schreibe. In diesem Jahr kann ich sagen (Walser ist 84; d. Red.), Sophokles war 84, als er die "Antigone" schrieb. Nicht schlecht, oder?

Sie haben unzählige Texte geschrieben, sind wohl einer der produktivsten Schriftsteller ...

Walser: Puh. Das ist doch lächerlich. Karl May hat 72 Romane geschrieben. Bei mir sieht das nur nach so viel aus, weil der Unseld (Chef seines früheren Verlags Suhrkamp, d. Red.) alle meine Bücher dreimal veröffentlicht hat.

Trotzdem, der Mensch ist eigentlich von Natur aus faul.

Walser: Faul? Wo kommt denn das her? Stimmt doch nicht. Schreiben ist eine Lebensart. Ich reagiere mit Schreiben aufs Leben, auf das, was mich reizt. Ich schreibe Tagebuch. Literarisches Schreiben ist Beruf, Arbeit, das Gesamtporträt der Persönlichkeit. Das entsteht nicht von selbst. In "Muttersohn" bedanke ich mich bei allen, die mir geholfen haben. Ich bin der Ansicht, ein Mensch allein kann gar keinen Roman schreiben ohne die Hilfe, die Erzählungen, die Zusendungen und Geschichten anderer.

Sie haben sich früher häufig zu Fragen der Politik geäußert. Warum jetzt nicht mehr? Wann hörte das auf?

Walser: Diese dann vom Zeitgeist bestraften schriftlichen und wörtlichen Äußerungen von mir waren nie Bestandteil meines literarischen Schaffens. Ich habe nur einen politischen Roman geschrieben: "Dorle und Wolf". Der Zeitgeist in den 60er- und 70er-Jahren hat zwar verlangt, man solle sozialkritisch sein und die Gesellschaft verändern wollen. Mir wurde aber schon für "Halbzeit", ein Roman, der 1960 erschien, attestiert, er sei affirmativ, also bestärke das Bestehende. Trotzdem galt ich als Linksintellektueller. Ich habe lange mein Leben unter dieser Etikettierung verbringen müssen.

Sie waren doch aber oft sozialkritisch.

Walser (laut): Aber nicht in Büchern! In Reden. Das ist doch ein riesiger Unterschied! Ich habe mich auch in letzter Zeit zu vielem politisch geäußert. Wenn ich mich darüber ärgere, wie etwas zugeht, dann muss ich schreiben. Ich kann sonst nicht schlafen.

Lesen Sie Grass, Lenz, Handke? Haben Sie Kontakt zu ihnen?

Walser: Dazu komme ich nicht.

War früher, in den 60er-Jahren, der Austausch unter den Intellektuellen intensiver? Man hat sich über Themen verständigt, hat an Aktionen teilgenommen.

Walser: Ach Gott. Das war immer kompliziert. Es wäre übertrieben zu sagen, ich hätte Kontakt mit Handke und Grass. Wir treffen uns vielleicht alle paar Jahre mal. Das können wir uns leisten. Ich habe aber keinerlei Probleme mit ihnen. Ich denke auch nicht mehr an diese lauten 60er-Jahre.

Gab es mehr Konkurrenz?

Walser: Nein! Jemand wie Siegfried Lenz und ich, wir haben auf völlig verschiedenen Wiesen geweidet und einander nichts weggenommen.

Hat sich der Literaturbetrieb in den letzten Jahrzehnten verändert? Gab es früher mehr Zusammenhalt?

Walser (lacht): Also, das sind so typische Verklärungsbemühungen dem Wort früher gegenüber. Damals war alles politisch. Links von der SPD war noch einiges möglich, nötig.

Was zeichnet im Jahre 2011 den Zeitgeist aus?

Walser: Zeitgeist ist immer mehr als Political Correctness. Aber er hat oft damit zu tun. Ich hab es dreimal dem Zeitgeist nicht recht machen können. Ich hab mich gegen den Vietnamkrieg ausgesprochen, hab die deutsche Teilung nie akzeptiert und hab in der Paulskirche versucht, den Umgang mit unserer Vergangenheit vom "Jargon der Betroffenheit" (Salomon Korn) zu befreien. Was die Teilung betrifft: Die Linken nannten die Teilung "die deutsche Frage". Und ich habe gesagt, dass das nicht geht. Da hat man mich zum Nationalisten gemacht.

Hat Ihnen das geschadet?

Walser (laut): Damals sehr. Glauben Sie, das ist angenehm, wenn man zum Rechtsextremen erklärt wird? Glauben Sie, das war ein Witz?

Aber ist man nicht auch gern im Gespräch, im Auge des Hurricans?

Walser: Im Auge des Hurricans ist es ruhig. Ich war in der Verwüstung. Ich bin fertiggemacht worden.

Sie haben sich sehr früh für die deutsche Vereinigung ausgesprochen. Wie empfinden Sie das heute?

Walser: Die deutsche Vereinigung ist das Beste, was uns je passiert ist. Das einzige Glück, das Deutschland in 1000 Jahren hatte. Ich verehre alle, die dabei geholfen haben.

Wenn Sie heute Ihre früheren Romane lesen, erkennen Sie sich wieder?

Walser: Wieso sollte ich die denn heute lesen? Das wäre doch lächerlich.

Haben Sie Charlotte Roche gelesen?

Walser: Nein. Wenn ich lese, was darüber geschrieben wird, nehme ich an, dass es kein Buch für mich ist.

Die Bestsellerliste wird stark von Krimis dominiert, zumeist skandinavischen. Lesen Sie die?

Walser: Nein. Aber ich lese deutsche Krimis.

Dann gibt es auf den Bestsellerlisten noch Titel wie "Winterkartoffelknödel".

Walser: Ich koche ungern.

Haben Sie Romanthemen, die Sie unbedingt noch schreiben wollen?

Walser: Das klingt vielleicht, dieses NOCH. Das dröhnt. Ja, sagen Sie es doch lauter, NOCH.

Klingt nicht gut? Dann vielleicht: Warten Sie auf Inspiration oder auf neue Themen?

Walser: Ich mag das Wort Inspiration nicht. Also gut. Natürlich gibt es viele Themen, mit denen ich mich seit Jahren beschäftige. Mein nächster Roman heißt "Das dreizehnte Kapitel". Darin gibt es Notate von Anfang 1994. Ich war im September vergangenen Jahres mit "Muttersohn" fertig. Was hätte ich den ganzen Winter über tun sollen?

Ein Buch schreiben.

Walser: Na klar.

Ihre Roman-Helden waren immer Männer. Ihr kommender Roman hat eine weibliche Hauptfigur, eine protestantische Professorin. Warum?

Walser: Ich mag Wörter wie Haupt- und Nebenfigur nicht. Es gibt wichtigere Figuren und weniger wichtige. In "Muttersohn" spielen auch Frauen eine wichtige Rolle. Die Professorin in Berlin hat natürlich auch zwei Männer. Einen solchen und einen anderen.

Sie sagen, jeder Roman ist autobiografisch. Was heißt das jetzt, mit einer Frauenfigur im Mittelpunkt des Romans?

Walser: Also, wenn ich der Roman bin, dann hat mich diese Frau in Gang gebracht. Es gibt auch einen Kerl im Roman. Und der schreibt. Aber ohne diese Frau fände er nicht statt. Auf jeden Fall war noch nie eine Frau so entscheidend, so weitreichend und formulierungsgroß für mich. Sie ist Professorin an der FU Berlin. Ich weiß gar nicht, ob die eine so gute haben. Mit dem Roman bin ich fast fertig.