Arno Lustiger überlebte den Holocaust als jüdischer Häftling. Nun hat er Geschichten von Menschen gesammelt, die Juden das Leben retteten.

Arno Lustiger, geboren 1924 im polnischen Bedzin, hat als jüdischer Häftling zwischen 1943 und 1945 das Getto seiner Heimatstadt und mehrere Konzentrationslager überlebt, darunter Auschwitz-Birkenau und Buchenwald. Später wurde er als Autodidakt zum Historiker der jüdischen Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte. Jetzt hat er die Geschichte der Menschen geschrieben, die Juden vor den Nazis gerettet haben: "Rettungswiderstand - Judenretter in Europa während der NS-Zeit". Am Dienstag liest er daraus mit seinem Freund Wolf Biermann beim Hamburger Abendblatt.

Hamburger Abendblatt:

Herr Lustiger, was ist falsch gelaufen in der deutschen Aufarbeitung der NS-Geschichte, dass die Menschen, die Juden gerettet haben, bislang kaum gewürdigt wurden?

Arno Lustiger:

Nach dem Krieg war die Mehrheit der Gesellschaft, die sich irgendwie mit dem Regime arrangiert hatte, bestrebt, das möglichst schnell hinter sich zu bringen und zu vergessen. Man war beschäftigt mit dem Wiederaufbau und dachte nicht an die, die widerständig waren, die Mut gezeigt hatten. Viele Menschen plagte ein schlechtes Gewissen, und die Rettungsgeschichten hätten gezeigt, dass es immer Freiräume gegeben hat, dass sie nur nicht genutzt wurden.

Aber die Widerständler vom 20. Juli werden doch auch verehrt, fast wie Helden.

Lustiger:

Auch diese Heldenverehrung kam nicht sofort. Das hat Jahre, Jahrzehnte gedauert. Denn an den Schalthebeln der Macht waren ja noch die alten Eliten, in der Beamtenschaft, bei der Polizei. So wie viele der Männer vom Polizeibataillon 101, die in Polen an Judenerschießungen beteiligt waren und nach dem Krieg zum Teil wieder bei der Hamburger Bereitschaftspolizei eingesetzt waren.

Es scheint, als hätte man die gesamte Erinnerungsenergie in Sachen Widerstand vorrangig auf ganz wenige Punkte konzentriert: zum Beispiel auf den 20. Juli.

Lustiger:

Nur kam dieser Widerstand vom 20. Juli für die Juden drei Jahre zu spät, da waren schon fünf Millionen Juden ermordet. An diesem 20. Juli 1944 ging ein Schiffskonvoi mit 1700 Juden von der Insel Rhodos ans Festland und von dort nach Auschwitz. Aber ich kann nicht umhin, meine Verehrung für die Menschen auszudrücken, die sehr spät und jeder aus spezifischen Gründen Widerstand geleistet haben und die das mit ihrem Leben bezahlt haben. Ich widme mein Buch allen Helden des Widerstands in Europa.

Was ist die "Methode Lustiger"?

Lustiger:

Ich kümmere mich bei meinen Forschungen um Einzelpersonen, mich interessieren nicht die Massen. Ich konnte ja nicht studieren, aber ich wollte wissen, wie das System der Nazis funktioniert hat. Sehr schnell entdeckte ich viele weiße Flecken in der Geschichtsschreibung, zum Beispiel der Anteil der Juden am spanischen Bürgerkrieg, wo 6000 jüdische Freiwillige in den Internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft haben. Die deutsche Geschichtsschreibung hatte kein Interesse daran, und die jüdischen Historiker im US-Exil haben davon nicht viel mitbekommen. Auch der Rettungswiderstand ist so ein weißer Fleck.

Den Sie jetzt ausfüllen. Wie haben Sie diese Geschichten gefunden?

Lustiger:

Viele in Gesprächen mit Geretteten und Rettern, durch Recherchen in Archiven und bisherigen Veröffentlichungen. Jeder Fall dieses Buches hat seine eigene Geschichte.

Ihre Helden sind Hausangestellte, Wehrmachtsangehörige, Geistliche, Prostituierte, ganze Gemeinden, ja sogar ein Lagerkommandant. Einer Ihrer Gastautoren schreibt, es gebe eine "moralische Sensibilität", die alle verbindet.

Lustiger:

Ja, aber es gibt auch riesige Unterschiede. Manche Aktionen waren situationsbedingt, manche von langer Hand geplant, manche kamen von Einzelpersonen, hinter anderen steckten ganze Netzwerke. Stellen Sie sich vor: Es ist Abend, es klopft an der Tür, draußen stehen zwei Menschen, die sagen: Wir sind Juden - können Sie uns eine Nacht aufnehmen? Da musste man innerhalb einer Sekunde entscheiden. Es gibt so viele Arten, wie Menschen zum Widerstand kamen - das kann man unmöglich auf einen Nenner bringen.

Woher kam im Zweifelsfall der entscheidende Impuls zu sagen: "Kommt rein"?

Lustiger:

Kein Mensch kann vorher wissen, wie er sich in einem solchen Moment verhalten würde. Die Verhaltensweisen sind geprägt durch Erziehung, vielleicht durch Religionszugehörigkeit. Es gibt so viele Faktoren. Trotz des brutalen Regimes haben die Retter ihre Angst überwunden und gehandelt. In Deutschland konnte man dafür ins KZ kommen, im Osten stand die Todesstrafe darauf. Das Wunderbare für mich ist festzustellen, dass es diese Menschen überhaupt gegeben hat.

Und es gab eine ganze Menge von ihnen.

Lustiger:

Um eine Person zu retten, sind im Schnitt sieben Personen tätig geworden, darunter viele, die sie früher gar nicht gekannt haben. Allein in Berlin war das eine ganze Armee - da sprechen wir von 6000, 7000 Untergetauchten, von denen aber nur 1300 überlebt haben. Über die misslungenen Rettungsversuche gibt es in Deutschland Gerichtsakten - ordentlich, wie das Land ist. In Osteuropa gibt es nicht mal das, die Leute wurden einfach erschossen.

Genau wie der Holocaust war auch die Rettung verfolgter Juden ein europäisches Phänomen, es gab sie nicht nur in Deutschland.

Lustiger:

Es gab schon Monografien über Länder, Netzwerke, Personen. Aber eine Gesamtdarstellung, ein Panorama, hat es nicht gegeben. Deswegen habe ich sie jetzt selbst geschrieben.

Man erfährt auch, wie nach dem Krieg mit den Rettern umgegangen wurde. Das reichte vom Schweigen bis zur gesellschaftlichen Ächtung. Wie bei der Haushälterin etwa, die Charlotte Knobloch versteckte und dafür angefeindet wurde. Oder beim Unternehmer Helmut Friedrich Gräbe, der in den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Größen aussagte.

Lustiger:

Genau. Er emigrierte nach Amerika, weil er hier einfach nicht mehr leben konnte. Da gibt es sehr viele Beispiele. Wer darüber redete, wurde ausgegrenzt. Viele mussten ihre Heldentat verschweigen.

Die Deutschen haben das lange verdrängt, einer Ihrer Gastautoren nennt es eine "eigentümliche Selbstamputation".

Lustiger:

Das muss man so sehen. So wie schon die Vertreibung der deutschen Juden - viele aus der wissenschaftlichen und künstlerischen Elite - eine Selbstamputation war. Und nach dem Krieg hat man sie nicht gebeten zurückzukommen.

Ist das Nichterinnern an die Rettungstaten eine Wunde in der Erinnerung der Deutschen?

Lustiger:

Ob die Menschen das als eine Wunde empfinden, ob sie daran leiden - das ist sehr individuell. Es gibt Menschen, die leiden darunter und sind engagiert. Diese Menschen sind meine Brüder und Schwestern im Geiste.

Welches Ziel hat das Buch?

Lustiger:

Das Ziel, Gruppen von Vergessenen, Verschwiegenen, Verleugneten, die für mich das Höchste an Humanität bedeuten, ins Gedächtnis zu holen.

Es gab die Idee einer kollektiven Schuld, gegen die sich die Deutschen auch fast kollektiv gewehrt haben.

Lustiger:

Eine Kollektivschuld habe ich vom ersten Tag der Befreiung an abgelehnt. Denn ich hatte es ja selbst erfahren, dass nicht alle so waren. Ich verdanke einigen Menschen, die anders waren, mein Leben. Am Ende ist jeder Einzelne selbst verantwortlich für das, was er tut oder nicht tut.

Sie verdanken unter anderem einem Wehrmachtsoffizier ihr Leben, der eine Tür öffnete, an die Sie während Ihrer Flucht, noch in Häftlingskleidung, geklopft hatten, um Essen zu erbetteln.

Lustiger:

Ja. Statt mich als entflohenen KZ-Häftling zu denunzieren, gab er mir einen Kanten Brot und ließ mich laufen.

Sie haben sogar einen Lagerkommandanten in das Buch aufgenommen. Bekommen Sie da keinen Gegenwind?

Lustiger:

Den fürchte ich nicht. Erwin Dold im KZ-Außenlager Haslach war der einzige Lagerkommandant, der sich anständig benommen hat, der Häftlingen half und Exekutionen verweigerte.

Der Antrieb für Ihre Arbeit, haben Sie mal geschrieben, sei die Erkenntnis: "Wir sind die Letzten."

Lustiger:

Ja. Wer wird daran erinnern, wenn wir nicht mehr da sind? Ich bin ja mit 87 Jahren ein alter Kerl. Es ist wichtig, dass alle diese Geschichten weitererzählt werden. Bisher habe ich alle Einladungen, vor jungen Leuten zu sprechen, angenommen, in Schulen, in Jugendzentren - immer in der Hoffnung, dass keiner von denen ein Nazi wird. Und dass sie erkennen, wie wertvoll Demokratie und Frieden sind. Dafür soll sich jeder einsetzen. Und dafür aufstehen, wenn es nötig ist.

Arno Lustiger und Wolf Biermann lesen, Di, 13. September, 19 Uhr, Axel-Springer-Passage, Caffamacherreihe 3 (U Gänsemarkt). Karten (nur an der Abendkasse) 8 Euro

Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Wallstein Verlag, 450 S., 29,90 Euro