Der Harburger Harald Beer hat ein Buch geschrieben über seine Haftzeit im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen.

Harburg. Wenn Harald Beer, 83, von einem schrecklichen Kapitel aus seiner Jugend erzählt, überwältigen ihn seine Gefühle. Er wird laut, gestikuliert, weint und ringt um Fassung. Er hat ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben. Es heißt "Schreien hilft dir nicht...", ist im Leipziger Universitätsverlag erschienen und handelt von seiner politischen Haft im sogenannten sowjetischen Speziallager Sachsenhausen von 1946 an bis 1950 sowie von seinen erneuten Gefängnisaufenthalt in Thüringen ab 1961 bis 1963. Darin liefert er nicht nur sehr ergreifende Schilderungen der Zeit seiner Gefangenschaft, sondern zeigt außerdem viele Dokumente, die Aufschluss über die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und der DDR geben.

Sein Werk ist alles andere als trockene Lektüre. Wer einmal das Buch aufschlägt, legt es erst einmal nicht wieder aus der Hand.

Als der Harburger 17 Jahre alt war, hatte er als sehr junger Soldat das Kriegsende in Schleswig-Holstein erlebt. Am 5. April 1945, seinem Geburtstag, hatte das NS-Regime den Jugendlichen noch eingezogen. An die Front wurde er allerdings nicht mehr geschickt. "Es reichte mir auch so. Darüber müsste ich eigentlich noch ein Buch schreiben."

Beer erlebte Entwurzelung, Flüchtlinge, Hunger, Obdachlosigkeit und Elend hautnah mit. Er gehört zur verlorenen Generation, zu einem Jahrgang, dem es schwer fiel, inmitten des damals vorherrschenden Chaos überhaupt Maßstäbe für ein soziales Miteinander zu entwickeln. Beer war es gelungen, sich seine Mitmenschlichkeit zu bewahren. Und genau das wurde ihm im Frühjahr 1946 zum Verhängnis. Er hielt sich in Zarrentin, in der sowjetisch besetzten Zone auf, als eine Frau ihn bat, ihr den Weg über die Grenze in jenen Bereich östlich des Schaalsees zu zeigen, die die britische Besatzungsmacht kontrollierte. "Da habe ich mir nichts gedacht, jeder ist damals einfach so über die Grenze gegangen, zur Arbeit, zum Hamstern, um Verwandte zu besuchen. Nichtsdestotrotz war es offiziell verboten", sagt er.

Diesmal geht der Grenzwechsel schief. Beer wird verhaftet, nachdem die Frau ihm zum Dank für seine Hilfe Zigaretten in die Brusttasche seines Jacketts gesteckt hatte. "Das scheint eine Art Erkennungszeichen gewesen zu sein." Ihm wurde Fluchthilfe vorgeworfen. "Da steckte ein anderer Grund dahinter", sagt Beer. Die Sowjets fürchteten junge Männer in seiner Altersgruppe, vermuteten, sie gehörten zu den sogenannten Werwölfen, Hitlers letztes Soldaten-Aufgebot, eine Untergrundorganisation, die Heinrich Himmler 1944 gründete, die aber von der Bevölkerung nicht beachtet wurde. Beer: "Die Russen befürchteten, dass die jungen Leute, noch unter dem Eindruck der Nazis, Widerstand organisieren könnten und verhafteten sogar Schulklassen."

Was dann kam, war der Horror. Fünf Jahre Haft kassierte der 17-Jährige für sein lapidares Vergehen von der Militärjustiz. Er wurde ins gefürchtete sowjetische Speziallager Sachsenhausen gebracht. Die Sowjets hatten im ehemaligen Konzentrationslager der Nazis eine eigene Schreckensstätte installiert. Es war das größte Lager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD auf deutschen Boden. Von 1945 an bis 1950 wurden dort 60 000 Menschen teilweise ohne Rechtsgrundlage gefangen gehalten. In dieser Zeit starben dort 12 000 Männer und Frauen an unter anderem Unterernährung, Krankheiten und Entkräftung. Sie wurden in Massengräbern rund um das Gelände verscharrt. Noch heute träumt Harald Beer vom Lager, wacht schweißgebadet auf, weiß manchmal nicht, ob er nicht gar noch dort ist. "Mein eigenes Schicksal berührt mich gar nicht so sehr, aber was dort anderen Menschen angetan wurde...", sagt er und kann nicht mehr weiter sprechen. In seinem Buch schildert er, wie leicht es im Lager war zu sterben. So heißt es: "Es gab Essen, eine Art Erbsenbrei, aus der 100-Liter Standardmülltonne." Nahrhaft war diese Mahlzeit nicht. "Brot war alles, Nahrungs- und Zahlungsmittel." Starb einer der Menschen, die in den Baracken zusammengepfercht worden waren, hatte Beer mehr als einmal miterlebt, "wie Ratten über Nacht die Augen der Toten gefressen" hatten.

Krankheiten brachen aus, weil, so Beer, "Hygiene eine utopische Fantasie" war. Die Gefangenen, von Hunger ausgezehrt, hatten Ruhr und TBC nicht viel entgegenzusetzen. "Ich überlebte", sagt Beer und berichtet einige Seiten weiter, wie er bei einem Außeneinsatz, bei dem er Hundeverschläge sauber machen sollte, Fleisch von jenen Knochen nagte, die die Tiere in ihren Näpfen übrig gelassen hatten.

Der Leser verspürt Erleichterung, als Beer schildert, wie er endlich frei kommt und sich dann eine neue Existenz in Nürnberg aufbaut, jobbt und ein Politikstudium aufnimmt.

Fassungslos erlebt Beer mit seiner Mutter den 13. August 1961 als die Arbeiten zum Mauerbau begannen. "Wir haben es nicht geglaubt, was da passiert", sagt er. Und was dieses Ereignis speziell für ihn für Folgen hatte, konnte er nicht ahnen. Wieder sind es seine Hilfsbereitschaft und seine Mitmenschlichkeit, die ihn erneut in große Schwierigkeiten bringen. Bei einer Transitfahrt von Westberlin nach Bayern will er zwei Frauen zur Flucht verhelfen und wird erwischt. Jetzt heißt es "Verhelfen zum Verlassen der DDR" im Gerichtsurteil. Zwei Jahre sitzt er nun in Gefängnissen in Untermaßfeld und Zwickau. 1963 wird Beer schlagartig berühmt, als er am 28. Mai 1963 am Grenzübergang Toepen-Juchhöh recht medienwirksam ausgetauscht wird.

Erst in jüngster Zeit hatte sich Beer dazu entschlossen, über diese sehr belastenden Themen zu schreiben. "Es war mir wichtig, über diesen Terror, diese Diktatur und ihre Instrumente zu berichten", sagt er. Kaum ein anderer hat eine so detailreiche Schilderung der Zustände im Sowjet-Lager Sachsenhausen geliefert. Das Anstrengende daran sei laut Beer nicht die Archivarbeit, das Wühlen in Stasi-Akten und alten Dokumenten - die Beschäftigung mit dem Buch war und ist das Ende eines langen Verdrängungsprozesses. "Ich hatte meinen Beruf als Schulungsleiter und Verkaufstrainer bei einer Versicherung, meine Frau, Freizeitaktivitäten - es gab jede Menge Gründe, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen." Sich nicht zu fragen, zu grübeln, so Beer, wie viele Menschen wohl in einem Massengrab Platz haben.

Das 248-Seiten starke Buch "Schreien hilft dir nicht..." von Harald Beer ist im Leipziger Universitätsverlag, ISBN 978-3-86583-571-0, erschienen. Es kostet 24 Euro.