Mit seinem neuen Chefdirigenten Thomas Hengelbrock gelingt dem NDR Sinfonieorchester in der Laeiszhalle ein aufregender Neustart in die Saison.

Hamburg. Man musste sich zwischendurch immer mal kneifen. Hatten die Damen und Herren auf der Bühne womöglich was geraucht? Nicht ihre Art, und dazu klappte das meiste zu gut. Lachgas? Denkbar bei so viel gespannter Heiterkeit, aber ebenso wenig wahrscheinlich. Doll verknallt? Das war es wohl. Die Liebes- und Wilde-Ehe-Metaphorik, die in den vergangenen Monaten das Stadtgespräch über das Verhältnis zwischen den Musikern des NDR Sinfonieorchesters und ihrem neuen Chefdirigenten Thomas Hengelbrock verbalerotisch prägte, sei ein letztes Mal bemüht: Das Saison-Eröffnungskonzert am Freitag in der Laeiszhalle, mit dem Hengelbrock sein Amt nun auch offiziell antrat, war eine berauschende musikalische Hochzeitsnacht. Und die Öffentlichkeit durfte nicht nur, sie musste dabei sein.

Die Sinfoniker des NDR spielten wie frisch aus dem Umerziehungslager zurückgekehrt. Allerdings einem, in dem anstelle von Gehirnwäsche unter Zwang eine sanftere, kathartische Art innerer Reinigung und Erfrischung stattgefunden haben muss. Als hätte Hengelbrock bei den ja zuvor bereits exzellenten Instrumentalisten auf einen Reset-Knopf gedrückt, als folgten nun alle einer geheimnisvollen hengelbrockschen Anleitung zum Glücklichsein beim Musizieren, spielte sich das Orchester durch ein Vierstundenprogramm von Barock bis Broadway und versuchte dabei so viel wie möglich anders zu machen als bisher.

+++ Universaltalent +++

Im sinnfällig um Hamburgensien herumgestrickten Barockblock, der den Abend einleitete, zeigten die beiden Konzertmeister Stefan Wagner und Florin Paul, dass auch unter dem Charismatiker Hengelbrock jeder nach seiner Fasson selig werden kann, solange die Einstellung stimmt. Wagner strich mit dem Barockbogen, Paul mit modernerem Gerät. Beide, und mit ihnen der Rest des Orchesters, folgten der Devise wenig Vibrato, Klangrede, nichts selbstverständlich und Merkwürdigkeiten der Partitur ernst nehmen. Beim Telemann-Konzert bliesen hinten Barocktrompeten, vorne zauberte Kalev Kuljus auf einer neuzeitlichen Oboe.

Camilla Tilling sang mit ihrem wundervollen, alles Schmerzliche kühlenden Sopran Arien aus Händels in Hamburg entstandenem Frühwerk "Almira". Bei den Highlights aus Cole Porters "Anything Goes" hatte Hengelbrock personell weniger Fortune. Ute Gfrerer sang behäbig im Stile einer Musicaldarstellerin aus der Provinz der 70er-Jahre, der Bariton Kevin Greenlaw ließ nur ein arg kleines Stimmchen hören. Umso mehr überraschten zahlreiche Mitglieder des Orchesters, die sich nach anfänglich zu überwindender Scheu mit wachsendem Vergnügen als Show-Chor ins Zeug legten. Die Damen machten dabei eine derart gute Figur, dass man schon um den Fortbestand des NDR Chors zu fürchten begann.

Auch wenn bei Beethovens "Eroica" nicht alles rund lief: Hengelbrock schuf hier einen Erlebnisraum, der immer wieder neu Gegenwart herbeiführte. Die Gründlichkeit, mit der er die Partitur befragt, die Freude an Bruchstellen, die Kontrastlust in der Gestaltung wirken zuverlässig den Routinen nicht nur des Spielens, sondern vor allem auch des Hörens entgegen. Es müsste schon mit dem schlimmsten hanseatischen Trägheitsteufel zugehen, wenn es diesem Wilhelmshavener Charmebolzen nicht glücken sollte, die Hamburger um ein gutes Stück ihrer Zukunft als Musikstädter näher zu bringen.