Bilanz des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel: wenige Enttäuschungen, viele radikale Studien, gute Musik und staubige Spiritualität

Hamburg. Manches in der Welt wird mehr, wenn man es teilt. Wenn man Glück hat, geschieht das in der Kunst. "Share & Win" - Teilen und Gewinnen - hatte Festivalleiter Matthias von Hartz als Thema des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals Hamburg auf Kampnagel ausgerufen. Geteilt wurden überwiegend Nachdenkliches, bedrohte Gemeingüter, Momentaufnahmen vom Werden und Vergehen. Und von dem manchmal mühsamen Dazwischen, den vielen Fragezeichen des Lebens. Sie beschäftigten auch jene Besucher, die minutenlang in stummer Andacht vor den fünf Leinwänden der Installation "The End" des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson verharrten, um zwei Musikern zuzusehen, wie sie ein paar melancholische Folk-Klänge in die Bergwelt Kanadas jagten.

Insgesamt kamen 23.600 Besucher. Das sind erwartungsgemäß weniger als die 28.000 im vergangenen Jahr, als die Deichtorhallen mit der Forsythe-Hüpfburg eine zusätzliche Attraktion boten, aber mehr als die 20.000 im Jahr davor.

Der schönste Moment dieses Sommerfestivals war vielleicht dieser: Scheinbar schlafende Kinder erwachen zum Leben und bemächtigen sich der Bühne, die vorher viel Dunkles und angedeutete Brutalität sah.

Boris Charmatz' radikale Studie zur Regungslosigkeit der Körper lieferte in ihrer Irritation und Vielschichtigkeit einen meisterhaften Höhepunkt. Stilistisch überraschend nutzte der Choreograf die Manipulation passiver Körper, schaffte es, die zehn mitspielenden Kinder gelöst und unbefangen in Szene zu setzen. Dagegen fanden die Jugendlichen in der Eröffnungsproduktion von Pina Bauschs "Kontakthof" bei der Konfrontation mit dem anderen Geschlecht erst allmählich zu charmanter Selbstsicherheit, schwankend zwischen Coolness, Ängstlichkeit und Verlangen nach Freiheit.

Akram Khans spirituell gedachte, von einer Welt nach dem Tod handelnde Choreografie "Vertical Road" zum Finale des Festivals lieferte das Gegenstück - thematisch wie formal. Denn der Bangladesch-Brite setzte musikalisch mit dem pompös pochenden Soundtrack von Nitin Sawhney, mit den staubigen Kostümen, dem Licht und seinem choreografisch raffinierten Mix aus nordindischem Kathak, Martial Arts und Sufi-Trance-Tanz auf Pathos und vordergründige Effekte.

Anders als der Tanz arbeitete sich das postdramatische Theater mitunter schwer an seiner Formsuche ab. Mariano Pensotti gelang es, mit Hilfe einer wechselnden Erzählerstimme in "El pasado es un animal grotesco" das Lebensgefühl einer jungen Generation zu transportieren, die zwangsflexibel durchs Leben strauchelt. Für deren Fragen an die absurde Wirklichkeit fand Cuqui Jerez gute Übersetzungen. Auch Forced Entertainment entwickelte in "Tomorrow's Parties" eine fantasievolle Erzählstudie mit Seitenhieben auf die Degenerationen der Gegenwart.

Mit der Ansicht, dass den letzten Dingen im Leben nur noch mit einer subtextfreien TV-Revue beizukommen sei, enttäuschte dagegen Avantgarde-Fossil Jan Lauwers & Needcompany. An zu hochgesteckten Zielen scheiterten das Hamburger Max Clement Movement und die Geheimagentur. Im Bemühen um einen aufklärerischen Gestus vernachlässigten sie Mittel und Form und landeten bei einem einhämmernden Agitprop-Theater von vorgestern. Die Kinder, mit denen die Geheimagentur in "Parlez!" das Thema Piraten umsetzte, wirkten im Gegensatz zu jenen in "Enfant" dressiert.

Da wollte man mitunter gerne der Theaterwirklichkeit entfliehen und lieber Burnt Friedman und Jaki Liebezeit lauschen, wie sie allerlei elektronischen Gerätschaften und dem Schlagzeug jenseitige Klänge entlockten. Ihre hypnotisierende Messe ließ Kunstgedanken sanft in tiefere Hirnwindungen sickern. Ohnehin überzeugte das Musikprogramm wie nie zuvor und wagte sich mit Anna Calvi, Hans Unstern und dem Duo Phantom/Ghost in Grenzbereiche vor. Wenn Sänger Dirk von Lowtzow am Schluss sein Dasein mit Geistern und Zwischenwesen teilt und der prall gefüllte Saal regungslos verharrt, ist es mal wieder ein wenig größer geworden, das geteilte Glück an der Kunst.