Der französische Choreograf Boris Charmatz und das Musée de la danse gastieren mit “Enfant“ beim internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.

Kampnagel. Minutenlang gehört die Bühne den Maschinen. In Zeitlupe zieht ein Kran schlaffe Tänzer-Körper über den Boden und hievt sie in die Höhe. Später gesellen sich ein Rollband und eine rotierende Plattform hinzu. Auf ihr kann sich kein noch so geschulter Körper halten. Zur Passivität verdammt sind wenig später auch die, die man eigentlich immer in Bewegung wähnt, die Kinder. In "Enfant", der aktuellen Produktion des französischen Tänzers und Ausnahme-Choreografen Boris Charmatz werden zehn von ihnen von den Tänzerinnen und Tänzern des Musée de la danse in Rennes hereingetragen. Schlafend. Das Paradies der Kindheit, wir müssen es uns als einen dunklen Ort vorstellen.

Ihre Kraftlosigkeit und ihr Ausgeliefertsein entwickeln ungute Gefühle. Bei der Uraufführung im Juli im Ehrenhof des Papstpalastes beim Festival d'Avignon wurde die Koproduktion mit dem Internationalen Sommerfestival Hamburg dennoch einhellig gefeiert. Die sonst hier zum guten Ton zählenden Abwanderungsbewegungen blieben aus. Am 23. und 24. August gastiert "Enfant" nun auf Kampnagel.

"Ich wollte mich in die Finsternis begeben", erzählt Boris Charmatz, und seine Worte wollen so gar nicht zu der gleißenden Sonne Südfrankreichs passen. Der Franzose, der sich in unterschiedlichen künstlerischen Zusammenhängen auch als Kurator begreift, war in diesem Jahr künstlerischer Beirat der Festivalleitung in Avignon. "Kinder bringen das Leben", heißt es. Dabei sind sie heute vielfach bedroht. Sie wachsen heran im Angesicht von Gewalt, Gefängnis, Rassismus und Arbeitslosigkeit. Die Schule schützt nicht davor. Häufig ist sie ein Ort der Krise", sagt Charmatz, der bekennt, selbst eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.

Der 38-jährige Choreograf gilt als einer der radikalsten und interessantesten Vertreter einer jungen Generation, die mit Formen des Gegenwartstanzes experimentiert. Nach einer klassischen Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper hat er für Meg Stuart getanzt und mit dem Jazzmusiker Archie Shepp improvisiert. In der Tanz-Installation "Die kranke Tänzerin" brachte er 2008 beim Festival d'Avignon sich selbst, die Schauspielerin Jeanne Balibar und Texte des Japaners Tatsumi Hijikata - Vater des Butoh-Tanzes - dynamisch zusammen.

Fälschlich hat man Charmatz häufig dem Nicht- oder Anti-Tanz zugeordnet. Darauf angesprochen zuckt er nur mit den Schultern. Nein, er tanze doch. Kategorisierungen interessieren ihn nicht. Eine Choreografie von Boris Charmatz ist auch immer eine Denkbewegung in den öffentlichen Raum. Ein Mittel, um Fragen zur Stellung des Künstlers und zur Beziehung mit dem Publikum zu stellen. Seit 2009 hat er im Musée de la danse in Rennes, das er als einen Ort der Kreativität, aber auch der theoretischen Aufbereitung begreift, sein Labor gefunden.

"Enfant" dürfte zu den bislang strengsten Arbeiten des Konzeptualisten zählen. Es ist eine lebende Skulptur. Angelegt als physisches Abenteuer. Die Mitwirkenden müssen den Tanz völlig neu denken. Sie verabschieden sich von der Energie, ergeben sich der Manipulation durch die Maschinen. Müssen Spannung ohne Muskelkraft erzeugen. Später nähern sie sich der Bewegung in einem simultanen Mosaik neu an. Die Gesten bleiben sanft, zerbrechlich, wenn auch unkontrollierbar. Gewalt oder Monstrosität haben hier trotz der Düsternis keinen Platz. Die Kinder selbst, zwischen sechs bis 12 Jahre alt, äußerten den Wunsch, sich erst nicht bewegen zu wollen. "Kinder kann man nicht zwingen", sagt Charmatz und lacht. "Sie lassen sich fallen und begreifen so den Raum. Einen Hauch von Ewigkeit." "Enfant" wagt einiges und gewinnt dadurch viel.

Die Erstarrung, sie ist nicht von Dauer. Ein Dudelsackspieler lockt die Kinder nach Art des Rattenfängers von Hameln an, ist bald selbst gefangen in der Bewegungsunfähigkeit. "Die erste Lesart ist, dass die Kinder sterben, wenn sie mit ihm tanzen", sagt Boris Charmatz. "Aber es gibt auch jene, dass er sie aus der Stadt der Pest hinausgeführt und damit gerettet hat."

Mehrdeutigkeit ist etwas, das der Choreograf schätzt. "Das ist ja alles vollkommen irreal. Das existiert so nicht, aber es gibt jedem die Möglichkeit, etwas Eigenes darin zu entdecken", sagt er.

Die Maschinen hat Charmatz bereits in seiner Arbeit "Régi" verwendet. Ein visueller Künstler brachte ihn auf die Idee. "Ich mag die symbolische Ausgeliefertheit. Es ist ein Traum des Tänzers, dass die Maschine die Bewegung initiiert." Zum Glück nicht von Dauer. Am Ende erwachen die Kinder, und die Erwachsenen verfallen in lähmenden Schlaf. Die Maschinen stehen zur Regungslosigkeit verdammt in der Ecke.

"Der Tanz gibt dir nichts zurück, nichts als diesen einen flüchtigen Moment, in dem du dich lebendig fühlst. Er ist nichts für unstete Seelen", sagte einst Merce Cunningham. Dass in diesen Kindern ganz viel Leben steckt, davon kündet am Ende dieser wunderbare Abend.

Boris Charmatz/Musée de la danse: "Enfant" Di 23.8./Mi 24.8., 20.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 22-24, Karten 12,- bis 32,- an der Ak.; www.kampnagel.de