Professor Friedrich von Borries zeigt in seinem 9/11-Roman “1WTC“ den Verlust einer Freiheit, die eigentlich verteidigt werden sollte.

Auf Stockhausen hatte man gewartet. Anders kann es nicht sein, wenn man den Roman eines Architekten und Kurators liest, der sich um den Terroranschlag vom 11. September 2001 dreht.

Weil Friedrich von Borries, im Hauptberuf Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, den Kapiteln seines Buchs "1WTC" schmissige kunstphilosophische Zitate voranstellt, darf neben Jean Baudrillard ("Darf man nur bauen, was dank seines herausragenden Charakters auch wert wäre, zerstört zu werden?") der moderne Komponist Karlheinz Stockhausen nicht fehlen.

Stockhausen hatte 9/11, wie der Terrorakt schnell schlagwortartig genannt wurde, wenige Tage nach dem Einschlag der Flugzeuge in die Zwillingstürme als "das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat", bezeichnet.

Der Terror-Anschlag vom 11. September und seine Folgen

Kunst und Ästhetik haben eigene Regeln, und was sie zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen zu sagen haben, ist immer bedenkenswert. Und Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Aufgabe: Kunst ist Weltauslegung. In "1WTC" sind es die Kreativen, die sich aus dem verwüsteten Herzen von Manhattan (und Amerika) sowie den daraus resultierenden Folgen einen Reim zu machen suchen. Mikael ist ein Künstler aus Deutschland, der ein Stipendium für einen Aufenthalt in New York erhält. Das "One World Trade Center" (1WTC) ist noch im Bau, es wird an der Stelle errichtet,wo das alte stand. "Ground Zero" heißt dieser Ort. Der Begriff entstammt eigentlich der Militärsprache und bezeichnet eine Explosionsstelle.

Friedrich von Borries geht es in der Tat um Explosionen, um geistige, nicht wirkliche. Sein Held will in Übersee künstlerisch eine nach 9/11 virulente Fragestellung ins Werk setzen: Was ist unsere persönliche Freiheit wert, wenn es um etwas Übergeordnetes geht, nämlich die Idee von der Freiheit einer Nation oder einer Lebensweise? Verliert man seine Freiheit, wenn man sie mit allen Mitteln verteidigen will?

Mikael, der die USA als "Sicherheitsdiktatur" betrachtet, schickt für sein Filmprojekt die Freundin Jennifer durch New York. Sie ruft unentwegt "Show you are not afraid, go shopping!" und zitiert damit Rudolph Giuliani, der als Bürgermeister genau dies den New Yorkern nach dem 11. September empfahl. Mikael filmt das nicht selbst, sondern hackt sich mithilfe einer anderen Freundin, Syana, in die Überwachungssysteme der Hausbesitzer ein. Die krisselige Schwarzweiß-Ästhetik des CCTV transportiert sein Anliegen - die Objektive der Kameras in ihrer schieren Menge in den Mittelpunkt zu rücken.

Für Mikael ist 9/11 kein Kunstwerk, jedoch das, was aus dem Anschlag folgt: Inspiration für eine künstlerische und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema. Gleiches gilt für den Autor Borries: Wo Autoren wie Michel Houellebecq zuletzt bereits den Kunstmarkt als literarisches Sujet entdeckten, hat der Kurator Borries keinen Grund zurückzustehen. In seinem Roman entsteht schnell eine Atmosphäre, in der neben theoretische Beflissenheit (Borries schreibt diskursiv und referiert die Kunstwerke, die mit der Technik des Überwachens spielen: Steve Mann, Christoph Faulhaber) vor allem eine künstlerische Schauerromantik tritt.

Borries inszeniert ein Spiel mit den Identitäten (der fiktive Mikael fungiert als Koautor) und eine Art Endspiel um die Freiheit, indem er neben dem Künstler Mikael weitere Figuren aufs Feld schickt: Der ehemalige Soldat und studierte Sicherheitsarchitekt Tom, dem Mikael in die Quere kommt, soll auf der Baustelle von 1WTC eine ganz neue Art von Folterkammer bauen. Ein simuliertes Paradies, in dem Terroristen sediert und unter Drogen gesetzt werden sollen. Die Computerspielentwicklerin und Hackerin Syana, die Mikael zunächst hilft, nutzt ihn in Wirklichkeit aus und macht ihn zur Figur in einem Spiel, in dem die Grenzen von Realität und Virtualität verschwimmen.

Das Verschwimmen von Grenzen: ein interessanter Vorgang, wo es den Mächtigen doch gerade um das Setzen, das Einziehen und das Schützen von Grenzen geht. Die Geschehnisse in "1WTC" - der Roman ist gleichzeitig verkopfter Thriller und 9/11-Kompendium - erscheinen reichlich unrealistisch und irreal. Das waren die Massenvernichtungswaffen im Irak auch.

Friedrich von Borries: "1WTC". Suhrkamp. 204 S., 13,95 Euro