Heute wäre die Künstlerin und Tochter der Harburger Kaffeeröster-Familie 70 Jahre alte geworden. Ein Blick in ihr verrückten Haus in Harburg.

Hamburg. Wie würde es aussehen in unserem Gehirn, wenn es vom Geist verlassen wird, weil der Mensch stirbt? Stünden da Erinnerungen aus Jahrzehnten herum wie alte Möbelstücke, Sehnsüchte wie Sammelobjekte, lägen Freundschaften herum wie Postkarten oder alte Fotos? Liegt unsere Lebensarbeit in Regale verpackt wie Kunstwerke, gestapelt, an die Decke geschraubt, weil die Wände voll sind? Wäre es aufgeräumt oder vollgestopft in einem scheinbaren Durcheinander, das niemand mehr versteht, weil der Besitzer seine selbst entworfenen Regeln einfach mitgenommen hat? Regeln einer neuen Welt, vielleicht einer besseren?

In Hanne Darbovens Haus sieht es genau so aus. Das Haus der international hochgeschätzten Konzeptkünstlerin steht in einem fast noch ländlichen Teil von Harburg, und wer es betritt, wird unwillkürlich von solchen Gedanken überfallen. Der Nachlass der Künstlerin steht, liegt und hängt dort so wie in ihren letzten Lebenstagen. Selbst die Mineralwasserflasche steht noch neben dem Bett, in dem sie am 9. März 2009 starb. Überall ein Sammelsurium von Figuren aus aller Herren Länder, von Puppen, Blechdosen, Postkarten, Notizbüchern, von Musikinstrumenten und Kaffeekannen, Leuchten, Skulpturen, Fotografien, Kunstwerken und seltsamen Gegenständen unbekannten Gebrauchs. Schmale Pfade dazwischen. Ein Charlie-Chaplin-Abbild, eine Porzellan-Tänzerin, ein Löwenfell, ein Cembalo, ein kleines Haus aus Granit - die Einzige, die wusste, wie das zusammengehört, ist tot. Wer durchschaut jetzt noch die eigenartige Möblierung jener fremden Ideenwelt, in der Hanne Darboven zu Hause war?

Sie ist hier noch präsent in jedem Stück, die zarte Frau mit dem kurzgeschorenen Haar, nicht nur auf vielen Fotografien, die sie zeigen. Sie war Tochter der jüngeren Harburger Linie der Kaffeeröster, war fasziniert von der New Yorker Kunstwelt (später jettete sie in der Concorde hin, weil sie so nur kurz auf ihre Zigaretten verzichten musste). Ihre in Harburg entstandenen Kunstwerke - handgeschriebene und nach komplexen Mustern berechnete Zahlenreihen, kunstvoll von Hand gestaltete Texte sowie Noten, in die sie ihre Berechnungen umsetzte - hat sie aufgeschrieben in penibel eingeteilten Tagesabläufen, über die Hanne Darboven ebenso penibel Buch führte.

Sie war auf etlichen documenta-Ausstellungen vertreten; ihre Werke sind heute in der ganzen Welt begehrt. China will im kommenden Jahr eine große Hanne-Darboven-Ausstellung präsentieren.

Zwei schneeweiße prachtvolle Ziegen begrüßen neugierig jeden, der das Grundstück mit dem alten Fachwerkhaus und dem leicht abfallenden großen Garten betritt. Sie haben der scheuen Hanne Darboven viel bedeutet, sie gehörten zur Familie. Ihre erste hatte sie sogar in eines ihrer Werke integriert - posthum und ausgestopft.

Das Haus, durch das Albert Darboven, der Kaffeekönig und Vorsitzende der Hanne-Darboven-Stiftung, führt, ist das, in dem die Künstlerin aufwuchs. Gehütet wird es jetzt von Jörg Weil, der die kranke Künstlerin ab 2006 drei Jahre lang bis zu ihrem Tod betreute. Das alte Haus ist verwinkelt, es gibt zig Anbauten, vollgestopft mit Erinnerungen auch sie. Kleine Treppen, winzige Räume, freigeräumte Arbeitsecken, eine davon vor dem Tod ihre liebste, ein winziger Tisch, davor stand der Käfig mit dem Kanarienvogel.

Trödel, würden unbefangene Besucher sagen. Dabei waren es mal Gegenstände, die den Gedanken Halt gaben, die Fantasien antrieben - eine kristallener Schädel etwa, in dem der Fantast Erich von Däniken ein Relikt von Außerirdischen sah. Der kluge Geschäftsmann Albert Darboven kann - bei allem Respekt für seine entfernte Cousine - nur schwer verbergen, dass er längst nicht alles nachvollziehen kann, was sie so umgetrieben hat; mit vielen Fragen zu ihrem oft rätselhaften Tun ist er allerdings nicht allein.

Wie viele Arbeiten sich im Nachlass der Künstlerin befinden, wissen nicht mal diejenigen, die ihn jetzt sichten. Geschützt werden sie in einem klimatisierten Hochsicherheitsraum. Die Werke der eigenbrötlerischen Künstlerin erzielen erhebliche Preise.

Später soll aus dem Anwesen ein Hanne-Darboven-Museum werden. Das war der erklärte Wunsch der Künstlerin, ohne dass sie je einen Gedanken daran verschwendet hätte, wie das praktisch gehen soll. "Busladungen von Menschen werden wir hier nie durchführen können", sagt Albert Darboven. Möglich wären aber kleinere Gruppen, nach Voranmeldung, mit Führung. Ein Zeitplan? "Wir müssen erstmal sehen, was alles hier ist und wie man das präsentieren kann."

Der erfahrene Geschäftsmann war es auch, der Hanne Darboven zur Errichtung der Stiftung geraten hat, der heute alles gehört - Haus, Grund, Werke, Nachlass. Das war nicht selbstverständlich. Über Jahre war der Kontakt zwischen den beiden abgebrochen, dann traf man sich vor 20 Jahren wieder. Seitdem suchte Hanne Albert Darbovens Nähe. Heute ist er Testamentsvollstrecker, Vorsitzender der Stiftung und Generalbevollmächtigter. Eine Menge Arbeit, die begann, als Hanne Darboven die Stiftungsidee auf einer Serviette notierte, die er noch heute hütet. So wie ihre Tagebücher, die publiziert werden sollen ("Sie hat das ausdrücklich erlaubt") oder ihre Briefe.

Hanne Darboven, so zurückgezogen und eingesponnen in ihrer Welt sie lebte, nahm regen Anteil am Weltgeschehen; neben ihren Ziegen waren die Weltpolitik, ihr Ärger über die Ära George Bush in den USA, ihre Beziehungen zur internationalen Kunstwelt Themen der Mittagessen am Wochenende im Haus von Albert Darboven.

Neben dem alten Haus steht ein neues. Klare Formen, wie geschaffen für ein Besucherzentrum, für kleine Ausstellungen. Und ein Zeichen dafür, dass das, was Hanne Darboven angestoßen hat, weitergehen wird. Sie hat dieses Haus gewollt, seine Fertigstellung noch erlebt. Ihre Ziegen werden sich über mehr Besucher sicher freuen.

Lesen Sie dazu auch ein Interview mit Harald Falckenberg über Hanne Darboven:


"Ihre Kunst hat zu wenig Beachtung gefunden"