Der Sänger und Regisseur Schorsch Kamerun redet im Interview über Flüchtlinge aus Nordafrika und die Schwierigkeit, sich zu empören.

Hamburg. Schorsch Kamerun sitzt im Café Meinke auf St. Pauli, er hat ein Stück Kirschkuchen bestellt. Früher hat er in der Punkband Die Goldenen Zitronen gespielt, da hieß es in einem Lied: "Ja, für eine Fahrt ans Mittelmeer, geb ich meine letzten Mittel her." Inzwischen macht Schorsch Kamerun Theater. Im Thalia hatte in dieser Spielzeit sein Stück "Vor uns die Sintflut" Premiere, darin werden Passagiere eines Luxusdampfers mit dem Elend von Flüchtlingen konfrontiert.

Hamburger Abendblatt: Wie sehen Sie die Bilder aus Lampedusa? Hat sich Ihr Blick durch das eigene Stück verändert?

Schorsch Kamerun: Nein, ich sehe die schon immer so drastisch. Es gibt ein kluges Buch, "Fliehkraft", da untersuchen die Autoren Orte, an denen sich Touristenströme mit Flüchtlingsströmen kreuzen. Was ziemlich oft passiert, interessanterweise. Es handelt sich um Sehnsuchtsorte, das Mittelmeer ist ja auch einer für uns Europäer. Nur eben aus ganz anderen Gründen.

Die Umstürze in Nordafrika haben uns bewegt, nun werden wir mit den Folgen konfrontiert. Menschen möchten teilhaben am Reichtum unserer Welt ...

Kamerun: ... ja, aber es geht nicht nur um unseren Reichtum. Es geht auch um Machtbereiche. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir ein bisschen früher ansetzen. Mit unserer Kolonialpolitik haben wir eine Welt geschaffen, die in ihrer Auswirkung bis heute oft unerträglich ist. Deshalb verlassen die Menschen in Afrika ja ihre Heimat: weil sie es nicht länger aushalten. Und dafür sind wir voll verantwortlich. Wenn man es abstrahiert aussprechen will: Die Sklaverei ist bis heute nicht abgeschafft!

Das war auch die Botschaft Ihres Stücks "Vor uns die Sintflut" am Thalia-Theater.

Kamerun: Das kann man so sagen. Wir haben sie vielleicht nicht so richtig scharf gekriegt. Manchmal kann ein kleines Gedicht oder ein kurzer Song prägnanter sein als ein acht Wochen geprobter Theaterabend.

Aber die Aussage ist ja schon deutlich geworden - dass uns diese Flüchtlinge aus Nordafrika etwas angehen. Müssen.

Kamerun: Ja. Für die einen ist das ein Panikszenario "biblischen Ausmaßes", zum Beispiel für den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der schon davon spricht, dass bald ganz Afrika nach Europa drängt. Ich glaube dagegen: Es ist unsere Pflicht, diese Menschen aufzunehmen. Und es ist ihr Menschenrecht, in Not zu uns zu wollen. Für die einen ist es eben ein lästiges Problem, das man irgendwie austarieren muss, für die anderen eine Dringlichkeit, die uns auffordert, zu handeln.

Muss man das als ehemaliger Punk?

Kamerun: Es ist zu einfach, Zeiten gegeneinander auszuspielen. Auch in meiner Jugend ging es ja um die grundexistenzielle Frage: Ertrage ich Zustände oder eben nicht? Wir haben es damals in unserem spätautoritären Umfeld nicht ausgehalten, mussten also dagegen angehen. Manchmal denke ich aber, dass wir es leichter hatten als die Jugendlichen heute. Wir kommen aus einer Generation, in der man noch gröbere Schwarz-Weiß-Bilder hatte. Wenn man aus der alternativen Szene kam, oder eben einfach Punker war, ergab das eine einfach sichtbare Form des Dagegenseins. Heute scheint es schwieriger, so eine Sprache zu finden. Auch weil sich das, wogegen man protestieren möchte, verändert hat, wesentlich komplexer geworden ist. Früher hatte man definiertere Feindbilder vor sich.

Und zwar?

Kamerun: Also, so ein polternder Franz Josef Strauß, da konnte man leicht dagegen sein. Das ist bei den Politikern heute subtiler. Die versuchen wesentlich breiter zu gefallen, haben dafür ihre Strategen und Medienberater. Sein Image war einem Herrn Strauß schnurzegal, wodurch er im Übrigen weitaus glaubwürdiger war als heutige Spitzenpolitiker. Und man selbst konnte in diesem Moment sagen: Was der da gerade behauptet, geht überhaupt gar nicht, da empöre ich mich. Deutlich. Auf die gut balancierten Medienpolitikerfiguren der Berliner Republik reagieren wir in der Regel unemotionaler.

Ist es also schwieriger geworden, sich zu empören?

Kamerun: Ich finde schon, ja. Weil es heute eine Pluralität der Formen gibt, die es früher so nicht gab. Ich habe gerade eine Gastprofessur an der Münchner Kunstakademie und stelle fest, dass die Studenten unsicherer dabei sind, eindeutige Bilder zu finden. Die halten es eigentlich nicht aus in der Endlosschleife der Möglichkeiten, die sie ja auch überfordert; im Internet, den sozialen Netzwerken, an der Uni, in der Bürgerinitiative nebenan ...

Wie gehen Sie als Künstler damit um?

Kamerun: Ich mache demnächst am Kölner Schauspiel ein Projekt, zu dem mich ein Manifest der "Gaza Youth" inspiriert hat, junge Leute, die im Gazastreifen leben. Die aber nicht nur platt gegen Israel sind, sondern ihre Lebenssituation insgesamt thematisieren. Ganz direkt, ungefiltert, das hat mich sehr an frühere Manifeste erinnert. Sie sagen auch "Fuck Hamas", meinen also sogar ihre eigenen Leute. Dieser Aufruf ist von Anfang Januar, also wenige Tage vor den Ereignissen in Tunesien ...

... als wir uns dann alle empörten.

Kamerun: Wir schauen fasziniert auf dieses direkte Aufbegehren, in Ägypten, in Tunesien, in Libyen. Weil es so eine "existenzielle Regung" ist, die uns abhandengekommen scheint. Unsere Umgebung ist geprägt vom Aushaltenkönnen, auf einer wie es scheint gerade noch ertragbaren Sparflamme. Auch der Hartz-IVler scheint immer so weiterzudümpeln, eben weil man ihn minimal über null hält. Aber der Grund, warum es weitergeht, ist, dass wir uns selbst dabei betrügen. Solange alles gerade noch so funktioniert, wie es aktuell funktioniert, bleibt eine Sehnsucht, die uns stets unzufrieden halten wird.