ARD-Journalist Klaus Scherer über die Stärken, aber auch die Harmoniesucht der Japaner

Hamburg. Klaus Scherer, 49, war von 1999 bis 2004 ARD-Korrespondent in Tokio und auch später immer wieder in Japan. Er berichtet heute aus Washington.

Abendblatt:

Das Fernsehen zeigt, wie geduldig Japaner die Not und die Evakuierungen hinnehmen. Ist das eine lange geübte Disziplin?

Klaus Scherer:

Wie ich von Freunden und Verwandten meiner Frau höre - sie ist Halbjapanerin -, überwiegt das Gefühl: Gegen so etwas wie Erdbeben und einen Tsunami kann man nichts machen, auch wenn diese Ausmaße ungeheuerlich sind. Das ist kein Fatalismus, sondern Erfahrung. Japan ist ein Erdbeben-Land, und nirgendwo hat man sich darauf besser eingestellt. Was aber die Menschen erschüttert und ihre bisherige Erfahrung übertrifft, ist der drohende GAU. Und was ich hier sehe, ist die Duldsamkeit, Selbstdisziplin, wenn nicht gar Selbstverleugnung der Japaner, die mir schon früher aufgefallen ist.

Gibt es keine Wut auf Tepco, den Betreiber des AKW Fukushima?

Tepco ist bekannt als Firma, die nicht immer die Wahrheit gesagt hat. Und Japan ist bekannt dafür, dass viele mögliche Konflikte mit Harmonie zugegossen werden. Kritik ist verpönt als störend und nicht hilfreich. Das gilt leider auch für konstruktive Kritik, etwa für eine Debatte um Kernkraft. Tepco hat den Leuten weisgemacht, sie bräuchten in jedem Zimmer Heizlüfter oder Kühlgeräte, die Strom fressen. Es hieß, Atomstrom sei grün. Da hätten kritische Fragen geholfen: Wozu brauchen wir diese Stromfresstechnologie? Warum machen es andere Länder besser?

Aber auch in Japan gab es schon Proteste gegen Großtechnologien.

Ja, sie entzündeten sich etwa in den 70er-Jahren am Ausbau des Flughafens Narita bei Tokio, gegen den Studenten, Gewerkschafter, Reisbauern Sturm liefen. Als es den ersten Toten am Bauzaun gab, war die Regierung klug genug zu sagen: Dann warten wir, bis alle zugestimmt haben und der letzte Reisbauer einverstanden ist. Da überwog am Ende wieder der Harmoniegedanke.

Die Japaner haben mehrere Desaster erlebt, darunter die Atombombe auf Nagasaki und 1995 das schwere Erdbeben von Kobe mit 6434 Toten. Wie werden sie die aktuelle Katastrophe bewältigen?

Sicher wird man die Ärmel hochkrempeln wie nach der Atombombe und der Kapitulation, als der japanische Kaiser zu seinem Volk sagte: 'Wir müssen das Unerträgliche ertragen.' Wir glauben, von außen ein fleißiges, duldsames Volk zu erkennen. Aber auch nach Kobe, nach Hiroshima litten viele Menschen unter Traumata, unter Psychosen, weil sie diese Schicksalsschläge eben nicht einfach wegstecken konnten.

Filme wie "Lost in Translation" gucken von außen auf die Andersartigkeit von Japan. Gibt es etwas, das Sie bewundern?

Ich habe in Japan immer bewundert, was wir den dritten Weg nennen. Die Gesellschaft war lange erfolgreich, hat den Wohlstand breit verteilt, war hilfsbereit auch anderen gegenüber: Japan hat viel für den Aufbau in Asien geleistet. In der Wirtschaftskrise haben die Konzerne keine Leute entlassen, was der Westen nicht verstand. Aber da zeigten die Japaner Loyalität. Man kann von ihnen mehr lernen als das Essen mit Stäbchen.