Der Film “Wer wenn nicht wir“ erzählt die Geschichte des unbekannten Autors Vesper, der zurückblieb, während Ensslin und Baader kämpften.

Als Bernward Vesper sich am 15. Mai 1971 in Hamburg-Eppendorf das Leben nahm, war er fast so unbekannt wie heute. Der Mann, der durch eine Überdosis Schlaftabletten starb, wurde gerade einmal 32 Jahre alt und hinterließ einen kleinen Sohn. Und ein Manuskript für ein Buch, das den Titel "Die Reise" tragen und seine Geschichte wie die der Generation, der er angehörte, erzählen sollte. In den letzten Tagen seines kurzen Lebens war Vesper Patient der Psychiatrie, ein im drogen- und medikamentenbefeuerten inneren Gefängnis einsitzender Autor und ehemaliger Verleger. Dabei steht sein Leben doch beispielhaft für den Generationenkonflikt, der weite Teile der deutschen Nachkriegszeit ausmachte, dessen Irrsinn und Radikalisierung in utopischen Gruppierungen und Politsekten mündete. Vesper war ein Rebell, träumte von der proletarischen Revolution und lehnte jegliche Autorität ab.

Von seinem Leben erzählt der Film "Wer wenn nicht wir", der morgen anläuft, und nicht von diesem Leben allein. Sondern auch vom Leben der Verlobten Vespers, die jeder kennt, der sich für Zeitgeschichte interessiert: Gudrun Ensslin. RAF-Ikone für manche, für die meisten brutale Untergrund-Kämpferin gegen das "Schweinesystem", wie die selbst ernannten Revolutionäre die Gesellschaft nannten. Neben Andreas Baader und Ulrike Meinhof ist sie das Gesicht der frühen RAF.

Mit der späteren Gefährtin Baaders war Vesper von 1962 bis 1968 liiert, 1967 wurde Sohn Felix geboren. Während Baader und Ensslin so etwas wie das Ur-Paar des deutschen Terrorismus waren, wie er in Gestalt der RAF jahrzehntelang Deutschland heimsuchte, erschien Vesper wie der unglamouröse Dritte, der auf dem Weg wohin auch immer (in einen proletarischen Kommune-Staat?) irgendwo verloren ging. "Wer wenn nicht wir", Andres Veiels Film, setzt die Liebesgeschichte zwischen Vesper und Ensslin in Szene; er erzählt vor allem aber die Geschichte des Außenseiters Vesper, der in Stefan Austs bahnbrechendem RAF-Buch "Der Baader Meinhof Komplex" kaum eine Rolle spielte. Vielleicht weil Aust manche der in der Psychologie angesiedelten Ursprünge der RAF zu wenig beleuchtete. Wie vorher der Historiker Gerd Koenen, auf dessen Studie - "Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus" - Veiels Film basiert, sieht Veiel die Studentenbewegung und in ihrer Folge die lebenswirkliche Radikalisierung als Kapitel eines deutschen Familienromans, der sich um Konflikte zwischen Eltern und ihren Kindern dreht. Und so sind die in den Spielfilm geschnittenen Doku-Szenen (Vietnam, Atomtests, Anti-Schah-Demonstration) nur die Folie, vor der die Antriebe der aufbegehrenden Generation liegen.

Diese Antriebe erschöpfen sich auch nicht in der Lust auf freie Liebe, die zuerst Vesper, dann auch Ensslin ausleben. Nein, sie finden sich vor allem in den Elternhäusern. Dort taten sich zwischen denen, die im Nationalsozialismus schuldig geworden waren, und ihren sich selbst ermächtigenden Kindern Gräben auf. Nichts könnte diesen Grundkonflikt besser illustrieren als Veiels Film, als Vespers Biografie.

Und was war das für ein Leben: gedrängt, bedrängt, widersprüchlich, verzweifelt, entrückt, verrückt - Vesper erzählt es selbst in seinem Buch "Die Reise". Er wird als Sohn des Dichters Will Vesper 1938 in Frankfurt an der Oder geboren, er wächst auf Gut Triangel im niedersächsischen Gifhorn auf. Sein Vater widmet dem Führer hymnische Gedichte ("So gelte denn wieder/Urväter Sitte: Es steigt der Führer aus Volkes Mitte") und schwadroniert von einer jüdisch-literarischen Weltverschwörung.

Will Vesper ist autoritär und stellt nach 1945 als Ewiggestriger seinen patriarchalischen Lebensstil gegen das Anstürmen der Moderne. Und der heranwachsende Sohn Bernward hilft dem Alten zunächst dabei, sein völkisches Weltbild zu bewahren, ja: Dieser identifiziert sich voll mit der rechten Opposition gegen die junge Bundesrepublik.

Denn die Emanzipation setzt spät ein, im autobiografischen, Fragment gebliebenen Roman "Die Reise" (posthum erschienen 1977) berichtet Vesper von der letzten Begegnung mit dem dominanten Vater: "Meine Geschichte zerfällt deutlich in zwei Teile. Der eine ist an meinen Vater gebunden, der andere beginnt mit seinem Tod. Als er starb, flüsterte ich ihm noch den Namen 'Gud- run' ins Ohr, die ich gerade kennengelernt hatte. Sterbeszene. Ich saß acht Tage an seinem Bett und heulte."

Gudrun, die Tochter eines Pfarrers aus dem Schwäbischen, wird die wichtigste Begegnung im Leben des zerquälten Mannes werden, der bis an sein Lebensende unter der identifikatorischen Gefangennahme durch den Vater leidet. Ensslin muss, das zeigt auch Veiels Film, am Anfang fasziniert gewesen sein vom zugleich scheuen und selbstbewussten Vesper, der als zorniger junger Mann nach Tübingen zum Studieren kommt und mit Hingabe für die Rehabilitierung seines Vaters kämpft. Vesper pflegt Briefwechsel mit rechten Publizisten und sucht die Vergangenheit des nach dem Krieg kompromittierten Vaters auf seine Art zu bewältigen: Er will den Namen dieses Vaters reinwaschen. Ensslin macht da gerne mit; schließlich geht es auch um das finanzielle Auskommen der beiden Studenten, die einen eigenen Verlag gründen. Stützpfeiler des Programms ist die Gesamtausgabe Will Vespers, der bis zu seinem Tod beharrlich den rechtsgesinnten Lippoldsberger Dichterkreis um den "Volk ohne Raum"-Dichter Hans Grimm besuchte.

Bernward Vesper nahm in seiner Jugend ebenfalls an diesen Treffen teil. Der Verleger Jörg Schröder, mit dem Vesper "Die Reise" herausbringen wollte, ordnete nach Vespers Tod das Textkonvolut und gab es als Romanessay "Die Reise" heraus. Schröder barg auch 1979 den Nachlass Bernward Vespers und fand nach Durchsicht der Briefe einen Rechten, "der mit dem Scheißdreck vom Lippoldsberger Kreis und dem anderen Schnarchzapfen-Nazimurks korrespondierte und paktierte".

Ein hartes Urteil. Aber war die Janusköpfigkeit des Mannes nicht offensichtlich? Wo Zweifel an seinem Tun zunächst unterdrückt werden, ist die Einsickerung linker Ideen in Vespers Geist am Ende ein alles durchdringender Prozess, der aus einem Rechten, der parallel das Werk seines Vaters und linke Schriften herausgibt (!), einen Linken macht. In Berlin stoßen Vesper und Ensslin zu dem Wahlbüro Willy Brandts. Sie docken an den linken Zeitgeist an. Der Vesper-Fachmann Koenen spricht angesichts von Vespers Häutungen von den veränderlichen Masken "einer gespaltenen Persönlichkeit, die verzweifelt ihre Rolle suchte".

Er findet eine, die ihn, auf gewisse Art, im Zentrum der Geschehnisse sieht: Er wird Herausgeber der Edition Voltaire, einer Reihe, die revolutionäre Texte versammelte. Mittlerweile ist er längst ein Rebell, der die inkriminierte Geschichte der Eltern durch Protest, Revolte und Kampf konterkarieren will.

Was in seiner Widersprüchlichkeit absurd wirkt, folgt einer psychischen Logik: Denn auf beide Weisen, der Identifizierung und der rebellischen Abkehr, bleibt Vesper (und mit ihm Ensslin) auf ungute Weise der Elterngeneration verpflichtet: Wie unfrei ist jemand, der sich in all seinem Tun an den Altvorderen abarbeitet? Weggefährte Klaus Dörner erinnert sich, wie Vesper immer alle mit seinen Erzählungen von der Unterdrückung durch den Nazi-Vater nervte. Aber die Richtung stimmte ja: Das Leiden an der Elterngeneration, das eingebildete und das wirkliche, war ein unerschöpfliches Reservoir für echte und künstliche Erregungszustände.

Vespers Radikalisierung bleibt eine rein theoretische; während seine Ex-Verlobte Gudrun Ensslin in den terroristischen Untergrund geht, macht Vesper eine Reise im Kopf - zu den biografischen Ursprüngen. Er will, als sich die Lage an den Unis und auf den Straßen zuspitzt, als der Kessel zu brodeln beginnt, als Benno Ohnesorg ermordet und Rudi Dutschke lebensgefährlich verletzt wird, als die spätere RAF mit dem Frankfurter Kaufhausbrand erstmals in Erscheinung tritt, sich endgültig vom Ballast der eigenen Herkunft lösen und in einer tief ins eigene Bewusstsein greifenden Prosa das Verderbte automatisch, von Drogen befeuert, aus sich herauspressen. Er macht sich an die Niederschrift der "Reise" - und will nun direkt mit dem toten Vater konkurrieren: auf dem Gebiet der Literatur.

Dort sieht er sich als Leidensmann, der das Schicksal seiner Generation stellvertretend auf sich nimmt: Die Kinder der in den Nationalsozialismus verstrickten Deutschen übernehmen die Verantwortung für das (Nichts-)Tun ihrer Eltern. Ensslin folgt dabei der militanten Logik eines Teils der 68er: Ihr Weg in den Terrorismus beginnt mit einer unversöhnlichen Anklage gegen den Vater, der widerspruchslos als Wehrmachtssoldat Dienst tat. Bei Bernward Vesper fiel der Generationskonflikt aus, als sein Vater noch lebte.

Und so holt er, dessen "Schuld" als Sohn eines Nazi-Dichters überdeutlich ist, die Auseinandersetzung mit dem Vater nach, indem er nur noch revolutionäre Literatur verlegt und alles Politische privat macht und umgekehrt. Aber anders als Ensslin geht er nicht in den Untergrund. Vielleicht weil er eine Verantwortung für den gemeinsamen Sohn Felix spürt; ganz sicher, weil er das Schreibgerät nicht gegen einen Brandsatz eintauschen will.

Es geht um Väter und Söhne, um Väter und Töchter in dem tragischen "Familienroman", den die Geschichte der Nachkriegszeit auf gewisse Weise darstellt - und in "Wer wenn nicht wir", dem Film, der diesen Roman auf beeindruckende Weise in Szene setzt. Die gnadenlose, weder die Eltern noch sich selbst schonende Zurück- und Innenschau Vespers gipfelt in psychotischen Bewusstwerdungsprozessen.

Während Ensslin Terroristin wird, dreht der Drogenesser Vesper mit der Zeit völlig ab. Zu Papier bringt er Sätze von literarischer Wucht, sie stehen im "Nachlass einer Generation", wie ein Journalist Vespers Buch "Die Reise" nannte: "Ja, ich wußte genau, daß ich Hitler war, bis zum Gürtel. daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm, und wenn ich auch eigentlich ganz andre Sachen vorhabe, die Gräber der Inka zu sehen um am Fuß des Himalaya sitzend den Morgen zu erwarten, und 'ich tue nichts und das Volk wandelt sich von selbst', ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, ist mein Vater, ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH ..."