Mit einem furiosen Finale enden die Lessingtage am Thalia-Theater. Der Erfolg ist beachtlich. Intendant Joachim Lux weiß, woran das liegt.

Hamburg. Die Gesellschaft wandelt sich dramatisch, jeder kann das spüren und sehen, der mit offenen Augen durch die Welt läuft, und sie verändert auch den Kunstbetrieb - er ist aufgefordert, für die Vielfalt der Kulturen Angebote zu finden. Das Thalia-Theater hat es probiert: Zum zweiten Mal organisierte es die Lessingtage am Thalia-Theater, der Erfolg ist beachtlich: 16 910 Besucher sahen die 58 Veranstaltungen zum Thema "Freundschaft", das entspricht einer Auslastung von 88,51 Prozent. Im vergangenen Jahr waren es noch 13 116 Besucher (84,3 Prozent). "Es existiert offenbar eine Sehnsucht unter den Zuschauern, die wir getroffen haben", sagt Intendant Joachim Lux. "Wir haben das Theater für andere Nationen geöffnet, und die Kenntnis der gelebten Gegenwartskultur vertieft."

Das Abschlusswochenende hielt noch einmal einige Höhepunkte bereit: Am Freitag trat das Ensemble Dorky Park aus Berlin mit dem Stück "Megalopolis" im Thalia-Theater auf; am Sonnabend fand hier die "Lange Nacht der Weltreligionen" statt und gleichzeitig im Thalia Gaußstraße ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele.

Dorky Park ist eine transnational zusammen gewürfelte Gruppe, die Lux in Kooperation mit Kampnagel präsentierte. Eine Einladung, die positiv auffällt - hat der zeitgenössische Tanz doch längst die Theaterregie inspiriert. Dennoch zeigen deutsche Sprechbühnen bislang selten Tanztheater.

Wo aber liegt "Megalopolis"? Zwischen einem Müllhaufen und schäbigen Call-Shop-Zellen, trist sieht das aus, urban, aber auch irgendwie vertraut. Hier entfesselt die argentinische Choreografin Constanza Macras eine Parade der gescheiterten Straßentypen. Sie treten, fallen, stürzen ineinander; im harten, aggressiven "Physical Theatre" verausgaben sich die Tänzer bewundernswert bis an den Rand der Erschöpfung, ihre Körper pumpen, die Lumpen, die sie tragen, sind bald durchnässt. Für ihre Akrobatiknummern bekommen sie spontanen Applaus. Es ist das Chaos der Verzweiflung, das auf der Bühne regiert, sie füllt und leert gleichermaßen, ein Sog entsteht, dem sich niemand entziehen kann.

Das Prinzip des gegenseitigen Kennenlernens wird auch bei der langen Nacht der Weltreligionen am Sonnabend wie ein Mantra gepredigt. Fünfeinhalb Stunden harren die Zuschauer aus, während auf der Bühne Vertreter von Hinduismus und Buddhismus ihre Lehren vorstellen. Das klingt zäh, doch das Publikum bringt unstillbare Neugier mit, folgt gebannt, niemand verlässt frühzeitig den Saal.

Vor allem die geistlichen Vertreter des Buddhismus gestalten ihren Part kurzweilig: Es gibt humorvolle Gespräche, Gedicht-Rezitationen von Schauspielern, die das seelische Waschungsritual eines ständig kichernden Mönchs zeigen. Räucherstäbchen, Sitarmusik, orangefarbene Gewänder schaffen ein heimeliges Gefühl. Ein großes Kaleidoskop wirft farbige Muster auf die Rückwand der Bühne, was nicht nur hübsch aussieht, sondern auch symbolisieren soll: Der Mensch ist nie Stillstand - er ist ein sich ständig wandelndes Wesen.

Wie sehr sich die Zuschauer auf das Thema einlassen, zeigt sich in einer minutenlangen, stillen Gruppenmeditation, die Geist und Herz öffnen und positive Gefühle erzeugen soll. Die Hände im Schoß, die Augen geschlossen, immer wieder huscht ein Lächeln über die Gesichter - es hat geklappt.

Im Thalia Gaußstraße wird derweil schon laut gelacht. Hier wird "Späte Nachbarn" gespielt, zwei Séancen nach zwei Erzählungen von Isaac B. Singer in der Inszenierung von Alvis Hermanis von den Münchner Kammerspielen. Und die Zuschauer kichern befreit. André Jung und Barbara Nüsse glänzen als amerikanisch-jüdische Überlebende, denen nur ihre Einsamkeit und Schuldgefühle gegenüber Verstorbenen geblieben sind. Mit Mut zum Hyperrealismus führt André Jung in Fettkostüm und Glatze das Leben eines reichen alten Juden vor, dessen Dasein von der schwächelnden Blase diktiert wird. Eine gute Stunde sieht man ihn Cornflakes essen und Tom-und-Jerry-Filme schauen, ohne dass es je zäh wird. Eine Nachbarin, Barbara Nüsse als überdrehte Paris-Hilton-Kopie, wird nur ein flüchtiges Glück in ihm erwecken.

In der zweiten Séance kommt es noch dicker: Mit schütterem Haar und fleckigem Hemd mimt Jung den Gelehrten Dr. Kalisher. Seiner Flüchtlings-Tristesse zwischen New Yorker Kakerlaken und Schnellrestaurants entkommt er nur durch die Fürsorge Lotte Kopitzkys, die in einer mit Eso-Kitsch überfrachteten Wohnung Signale der Gottheit Krishna empfängt - und seine Ex-Geliebte herbeirufen will. Ein todtrauriger Abend, der in Echtzeit von Sehnsüchten erzählt. Und damit eine starke humanistische Kraft entwickelt.

So endet das letzte Wochenende der Lessingtage. Mehr glanzvolle Vielfalt geht nicht.