Wie man den Zeitgeist deschiffriert, beschrieb der Zeichendeuter einst in einem Essayband, der jetzt erstmals komplett auf Deutsch vorliegt.

Der Mythos ist eine Geschichte, die weitererzählt wird, immer wieder. Der Mythos ist so etwas wie eine Erzählung, die von einem positiv belegten, legendären Ereignis berichtet; oder, im Gegenteil, von einer Sache, die gemeinhin als Lug und Trug abgetan wird. Positive Mythen sind wichtig für die historische Erdung einer Gesellschaft, sie sorgen für den Kitt im kulturellen Gedächtnis. Sie umgibt oft genug auch eine Aura der Unnahbarkeit, sie sind überzogen von einer Patina des Vergangenen, auch wenn sie ihre Funktion als allgemeiner Zufluchtsort des Menschlichen (als tröstendes, erhebendes oder erklärendes Narrativ) erfüllen.

Der französische Zeichendeuter Roland Barthes (1915-1980) unternahm bereits Mitte der 50er-Jahre mit seinem essayistischen Buch "Mythen des Alltags", das jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erscheint (wieder bei Suhrkamp), den Versuch eines Transfers des "Mythos"-Begriffs in die Welt des Alltäglichen.

Was der Marxist Barthes untersuchte und interpretierte, waren Elemente und Gepflogenheiten der westlichen - französischen - Gesellschaft der 50er-Jahre: etwa die Bedeutung des Kinderspielzeugs oder die Speisekarte mit Beefsteak und Pommes frites ("Das Beefsteak gehört zur selben Blutmythologie wie der Wein. Es ist das Herz des Fleisches, es ist das Fleisch im Reinzustand, und wer davon isst, nimmt Stierkräfte an"). Barthes überlegte, was es mit dem "Gesicht der Garbo" auf sich hat, und er analysierte fantasievoll das Rätsel der "Marsmenschen" (eines der Stücke, das in der alten Ausgabe nicht enthalten war), die, als Repräsentanten eines Dritten, über die zweigeteilte Welt der Ideologien (der Westen gegen den Sozialismus) als unparteiische Richter urteilten.

So deutete jedenfalls Barthes den Mythos von den fliegenden Untertassen, was zum einen die Originalität seines Denkens erkennen lässt und zum anderen die Zeitgebundenheit seiner Untersuchungsgegenstände.

Grundannahme seiner Überlegungen war damals, dass "Mythos" nicht nur ein bekanntes Ereignis meint, sondern vor allem die unbewussten und kollektiven Verabredungen, wie ein bestimmter Sachverhalt, eine bestimmte Handlung oder eine bestimmte Person zu verstehen ist: zum Beispiel die codierte Sprache der französischen Reiseführer. Der Mythos nach Barthes ist eine mit Bedeutung aufgeladene, jedem zugängliche Wahrnehmung; eine Mystifizierung, die zu dechiffrieren ist: Wir trinken gewohnheitsmäßig (französischen) Rotwein, aber welche kulturelle Bedeutung hat das?

Der Semiotiker Barthes erklärt genau dies in seinem Büchlein, in dem er 53 Alltagsphänomene untersucht. Nur 19 von ihnen tauchten in der ursprünglichen deutschen Version auf. Begründet wurde dies mit der kulturellen Fremdheit, mit der deutsche Leser angesichts der französischen Verhältnisse konfrontiert würden. Dabei war die Auswahl ziemlich willkürlich, und betrachtet von heute aus wirken beinahe alle Beispiele historisch und doch genauso wenig "fremd", wie sie damals gewirkt hätten: Es erfordert nur die Einfühlung in bestimmte zeitliche und nationaltypische Verschiebungen.

Der Mythos sei eine Form des Bedeutens, schreibt Barthes in seiner theoretischen Skizze im Anschluss an die Essays und weiter: "Also kann alles Mythos werden? Ich glaube ja, denn das Universum ist unendlich suggestiv."

Seine Deutungen der Alltagskultur sind luzide; man liest mit Genuss seine Gedanken zum "Striptease": "Ein paar Atome Erotik ... Es gibt also beim Striptease eine ganze Reihe von Hüllen, die in dem Maße um den Körper der Frau gelegt werden, in dem man ihn vermeintlich enthüllt." Aber man merkt doch, dass die Mythen, von Barthes eben immer verstanden als Alltagspraxis, heute andere sind: Die heutige Pornografie ist doch wohl eine viel mächtigere Erzählung als der Striptease, vielleicht weiß man auf der Reeperbahn davon zu berichten, viel mächtiger ist sie, möchte man meinen, als der Striptease jemals war.

Über was würde Barthes, der begnadete und kritische Zeitdiagnostiker, heute schreiben? Bestimmt über die paranoide Geschäftigkeit eines Zeitalters, in dem der Westen gesiegt hat und nach dem Ende der Geschichte nicht nur in Paris, sondern auch in Moskau und Warschau der immer vernetzte, frei flottierende Arbeitstätige mit Laptop und Handy im (Nichtraucher-)Café sitzt. Vom "Arbeiter" würde er nicht mehr berichten, aber den Mythos des Adeligen, dessen übermenschliches Wesen in den Magazinen ausgestellt wird, weil er nicht normalsterblich ist, würde er heute noch so finden. Und beim Blick über den Rhein die Rückkehr des Adeligen in die Politik beschreiben und das dazugehörige Medienecho: Wie machen die Guttenbergs das nur, woher nehmen sie diesen Mut?

Mobilität als Versprechen unserer Zeit: Das ist einer der wirkmächtigsten Mythen, neben dem des Netzwerks, das sich via Internet über den Globus spannt. Überhaupt sind die Bereiche der Technik und der Medien diejenigen, aus denen man schöpft, wenn man nach zeitgenössischen Mythen sucht. "Kleinbürgerliche Kultur in universelle Kultur" zu verwandeln, das sei das Ergebnis der Mystifikationen des Alltags. Vom "Kleinbürger würde heute niemand mehr sprechen, jede Zeit hat ihre Begriffe und Stereotypen. Wie überhaupt die Alltagsmythen Barthes', sofern sie sich an Figuren hefteten (der Schriftsteller im Urlaub, der Catcher, der in den Harcourt-Studios ausgebildete Schauspieler) immer auch ein wenig mit dem Mittel des Stereotyps arbeitete. Barthes nahm an, dass man bestimmte Mythen von gestern bis in die heutige Gestalt verfolgen könne.

Seine Lieblingsfigur war immer der Intellektuelle: Wahrscheinlich war er vor 50 Jahren mächtiger, längst hat die Natur- über die Geisteswissenschaft triumphiert. Barthes' Beschäftigung mit dem Mythos war nichts anderes als eine soziologische Fingerübung: In Alltagsphänomenen sehen wir die Regeln unseres Zusammenlebens. Gesellschaftsfiguren, die seinem Blickfeld kaum entgangen wären, sind etwa der Vegetarier, Weltenbummler, der Fernsehmoderator - um nur einige zu nennen.