Die 25-jährige Schweizerin Dorothee Elmiger erzählt in ihrem Roman “Einladung an die Waghalsigen“ von zwei Chronistinnen des Verfalls.

Die gerade 25-jährige Dorothee Elmiger hat mit ihrem Debütwerk viel Mut bewiesen. Ihr Roman stellt sich geradezu quer zum literarischen Zeitgeist, ist inhaltlich und formal gleichermaßen radikal wie anspruchsvoll und will nicht konsumiert, sondern bezwungen werden. Die junge Schweizerin, die an den renommierten Instituten in Leipzig und Biel Literatur studiert hat, wurde für einen Auszug aus dem nun vorliegenden Erstling Ende Juni beim Bachmannpreis in Klagenfurt mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet.

Elmiger erzählt in ihrer verknappten Prosa von den Schwestern Margarete und Fritzi Stein, Töchter des Polizeikommandanten und einer "abtrünnigen Frau". Sie sind Übriggebliebene ihrer Generation und leben in einer durch einen infernalischen Brand in einer Kohlenmine völlig zerstörten Landschaft - eine bedrohliche Mischung aus gefängnisähnlicher Industriewüste und apokalyptischem Vorhof der Hölle.

Die jungen Frauen bewegen sich als Suchende durch Elmigers dunkles Untergangspanorama. Margarete liest alles, was sie zwischen die Finger bekommt, während Fritzi mit großer Ausdauer das verödete Umland erkundet. Hinter diesem Entdeckergeist verbirgt sich auch die Suche nach den eigenen Wurzeln.

Margarete stößt bei ihrem Lesemarathon auf eine Landkarte aus dem Jahr 1823, auf der ein Fluss namens Buenaventura auftaucht - versehen mit dem Hinweis "Unerforschtes Land". Eine Stelle mit wegweisendem Charakter in Elmigers Text, denn die Suche nach dem offensichtlich verschwundenen Fluss wächst sich bei den Schwestern zur Manie aus. Mit jugendlichem Pioniergeist und nie versiegendem Enthusiasmus wollen sie alles erforschen in ihrem kargen Lebensraum, der einst eine blühende Kohlenlandschaft mit 7,4 Millionen Einwohnern gewesen sein soll und in dem es in der erzählerischen Gegenwart nur noch die Farben "Braun, Oliv und Schwarz" gibt.

Die Welt besteht bei Dorothee Elmiger nur noch aus Bruchstücken, und die Schwestern betätigen sich wie Beckett-Figuren als Verfalls-Chronisten. Dabei bedient sich die Autorin immer wieder einer ausgefeilten Montagetechnik, lässt Gedanken der Schwestern mit Textpassagen von Goethe, Rosa Luxemburg, Lenin, Robert Walser und vielen anderen verschwimmen.

Hier wird ganz gezielt mit Anspielungen und Querverweisen gearbeitet. Dabei wirkt der Text dennoch nicht, als sei er am Reißbrett entstanden, sondern hat sich eine jugendlich-ungestüme, beinahe spielerische Note bewahrt.

"Wir siedelten uns an zwischen Abraum und Schutt, wo der Aussatz der Stadt blühte, die Metastasen der Industrie." Dies ist (obwohl man es vermuten könnte) kein Elmiger-Satz, sondern eine Passage aus Wolfgang Hilbigs 1991 erschienener Erzählung "Alte Abdeckerei", in der auch ein zugrunde gehender Fluss eine zentrale Rolle spielte. Allzu fern liegt die Vermutung nicht, dass Elmiger, die ja einst in Leipzig studierte, in Sujet und Tonfall vom dort hochgeschätzten Werk Hilbigs entscheidend beeinflusst sein könnte.

Am Ende verschicken die Schwestern Einladungen zur feierlichen Wiederentdeckung des Flusses Buenaventura. Ob die Briefe ankommen? Sind die Adressaten die Waghalsigen? Oder ist es die Autorin selbst, die sich waghalsig an großen Vorbildern abgearbeitet hat und sie zu überwinden versuchte? Ein reizvolles Debüt abseits der ausgetretenen Pfade des Mainstreams, das neugierig macht auf mehr aus der Feder dieser mutigen und hochtalentierten Autorin.

Dorothee Elmiger: "Einladung an die Waghalsigen". Dumont-Verlag, 143 Seiten, 16,95 Euro