Das Musikfernsehen verabschiedet sich zu den Bezahlsendern, die Videoclip-Ästhetik bleibt. Über die Bedeutung eines Genres.

Hamburg. Das Musikvideo ist in den vergangenen Jahren des Öfteren verabschiedet worden (ins Popmuseum, in den Ruhestand oder gleich ins Jenseits), jetzt geht es wirklich. Und zwar ins Pay-TV: Ab dem 1. Januar 2011 ist MTV nur noch als Bezahlsender empfangbar. Damit geht eine Ära zu Ende, die am 1. August 1981 begann. Es verschwindet eine Kunstform, deren Ästhetik eine Generation von Konsumenten und Rezipienten geprägt hat.

Natürlich ist mit dem Ende des frei empfangbaren MTV nicht der Zugang zum Videoclip verschlossen: Wer will, wirft die Jukebox YouTube an oder versorgt sich auf anderen Internetkanälen. Miesepeter haben den Dating- und Realityshow-Sender MTV schon lange aufgegeben. Andere sprechen derzeit aber sogar von einer Renaissance des Phänomens Musikvideo: Für die kanadische Band Arcade Fire hat zuletzt Spike Jonze einen herausragenden Videoclip ("The Suburbs") gedreht, und Kanye Wests "Runaway" ist ein so aufwendig produzierter Musik-Kurzfilm, dass man sich wieder in den Achtziger- oder Neunzigerjahren wähnt, als die Bilder zum Song zur Kunst erhoben wurden.

Eine Bedingung der Videoclip-Kunst: ihre freie Verfügbarkeit. "I want my MTV!" war eine konsumistische, fordernde Haltung, die mitleidlos die Feststellung des ersten auf MTV gespielten Clips garantierte: "Video killed the Radiostar". "I want my MTV" ist übrigens ein Vers aus dem Dire-Straits-Song "Money For Nothing", dessen Clip am 1. August 1987 erstmals gezeigt wurde: als MTV Europe on air ging.

Ein der Popkultur innewohnender Antrieb ist, sie jedem zugänglich zu machen; ihre Geschichte ist auch eine ihrer Distribution. Wer will schon suchen? Gerade hierzulande ist die große Demokratiemaschine "YouTube" (schließlich kann hier jeder Videos hochladen, mit Kunst haben allerdings nicht alle zu tun) wenig verlässlich. Die meisten Clips sind aufgrund der Rechtsstreitigkeiten mit der GEMA gesperrt. Und trotz mancher oben erwähnter Großtaten ist die Clip-Konfektionsware à la Katy Perry längst zum Standard geworden. Letztlich war es natürlich das Internet, das dem ehrgeizigen und formvollendeten Medium den Garaus machte: Mit Filesharing und MP3-Daten sanken die Erlöse der Plattenindustrie und schwand auch der (künstlerische) Einfluss des Musikfernsehens.

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Dabei war die "auditive Darstellungsform in einem audiovisuellen Medium", wie Kulturwissenschaftler sagen, wichtig für die Leinwand-Ästhetik: Die Impulse fürs Filmemachen waren kaum zu übersehen. In Deutschland hatte Tom Tykwer viel von den MTV-Regisseuren gelernt: Die schnellen Schnitte in "Lola rennt", das Stakkato der Einstellungen, die Verdichtung des Plots entsprachen dem Rhythmus des als hektisch oder pulsierend empfundenen modernen Großstadtlebens - und den Standards in Musikvideos.

Dort steht die Kamera beinah nie still, und auch die Schnitte und Überblendungen verlangen den Zuschauern eine schnellere Auffassungsgabe ab als filmische Schöpfungen vor der Ära der Videoclips. In deren Blütezeit durfte 1995 Regisseur Mark Romanek 2,5 Millionen Dollar für den Clip zu Michael Jacksons "Scream" ausgeben.

Für die mit MTV Aufgewachsenen sind die Sehgewohnheiten und das oft als "Kunst-Kannibalismus" gescholtene Zitieren und Verdichten der Videoclip-Semiotik das Rüstzeug für jegliche Kunst- und Medienerfahrung. Videoclip-Regisseure wie Spike Jonze und Michel Jondry drehen heute Kinofilme, andere arbeiten für die Werbung. Wer Filme wie "Sieben" oder "Vergissmeinnicht" kulturhistorisch einordnen will, kommt an der Kunstgattung "Videoclip" nicht vorbei.

So sehr sich die visuellen Techniken des Videoclips durchgesetzt haben, so vehement hat der Videoclip Eingang in den kulturellen Schatz der Menschheit gefunden. Heute gehören Videos in die Sammlungen der größten Museen der Welt: etwa dem Museum of Modern Art in New York. Dass Videoclips so schnell, beiläufig und geschmeidig konsumiert werden können, wurde ihnen von Verächtern stets zum Vorwurf gemacht. Angesichts veränderter Rezeptionsweisen und großer Medienkonkurrenz ist die Videoclip-Ästhetik nun aber fester Bestandteil nicht nur der Alltags-, sondern auch der Hochkultur.

Videoclips sind, auch wenn sie in ihrer Bedeutung und im Hinblick auf ihre Popularität inzwischen marginalisiert sind, fester Bestandteil des kulturellen Referenzsystems. Die Autoren Henry Keazor und Thorsten Wübbena erinnern in ihrem vorzüglichen Buch "Video Thrills the Radio Star" an einen Clip der US-Band "The Postal Service", dessen Script vom selben Regisseur drei Jahre später für den Werbeclip einer Computerfirma verwendet wurde.

Was der Siegeszug der Videoclip-Ästhetik mit dem Ende von MTV (als frei empfangbarem Sender) zu tun hat? Eher gar nichts. Ob es auch in Zukunft technisch und formal tolle Videos wie Fatboy Slims "Weapon of Choice" und Madonnas "Vogue" geben wird? Wahrscheinlich. Aber nicht mehr in Serie.