Zurück ins Kinderland der Weihnachtslieder oder doch der Instrumenten-Phobie frönen - zwei Abendblatt-Redakteure, zwei Meinungen.

Pro

Tannenbäume sind geduldig. Sie lassen sich widerspruchslos fällen, in einen Netzstrumpf aus extrem zähem Nylon zwängen, aufstellen, mit Kugeln, Strohsternen und Lametta schmücken und ansingen. Doch, das gibt es, das Wort: ansingen. Ich kenne es auch erst seit ein paar Jahren. Recherchen im Familienkreis deuten auf seinen Ursprung im süddeutschen Sprachraum hin. Die Tätigkeit selbst, das Singen von Weihnachtsliedern vorm Tannenbaum, war auch in meinen kirchenfern-protestantischen Kindertagen Brauch. Obwohl es beim Ausruf "O Tannenbaum" naheliegt: Wir haben es nicht 'ansingen' genannt. Das Verb deutet ja auf eine Initiative zur Kommunikation hin (anrufen, anreden, ansprechen), es macht Hoffnung auf irgendeine Reaktion des Baums auf den Gesang. Aber Tannenbäume hüllen sich in Schweigen, nicht nur im Walde.

Als Halbwüchsiger fand ich Weihnachtslieder spießig, später das ganze Fest. Mit Anfang 20 verbrachte ich in Berlin Heilige Abende lieber bei Double Feature Shows im Bleibtreu-Kino. Tannenbäume hatten WG-Verbot. Singen war mir peinlich, ich spielte schweigsam in einer Band den E-Bass. Erst als die Kinder kamen, arbeiteten sich neben den alten Gute-Nacht-Liedern auch "Ihr Kinderlein, kommet" und Co. wieder aus den Felsentiefen der Erinnerung zurück in meinen aktiven Liederwortschatz.

Heute Abend ist es wieder so weit. Ein repräsentativer Ausschnitt unseres Flickenteppichs von Familie - erwachsene Kinder und kleines Kind, die kommune-gestählten Schwiegereltern, die Cousine aus Amerika, Geschwister - findet sich zu Rouladen mit Kraut und Bescherung ein. Das Ansingen des Baums gehört unbedingt dazu. Wir tun das im vollen Bewusstsein der weiten Wege, die manche von uns genommen haben, zurück ins Kinderland der Weihnachtslieder.

Trotzdem kann keiner alle Strophen auswendig. Lücken überbrücken wir durch emsiges Schauen auf die Lippen der anderen. Aus dem Internet runtergeladene Textblätter erwiesen sich in der Vergangenheit als unzuverlässig. Jedes Mal geloben wir, im nächsten Jahr die Texte aber wirklich draufzuhaben. Wir singen a cappella, manchmal zu tief oder zu hoch, dann fangen wir noch mal von vorn an. Auch zarte Versuche zu spontaner Mehrstimmigkeit wurden schon beobachtet. Stecken und Stab in lexikalischen Fragen war früher die sehr katholische Oma meiner Frau, die an Heiligabend stets zur gegebenen Zeit von ihrem Sessel aufstand, sich den Rock zurechtzupfte und ohne Stocken vorm Baum ihr Weihnachtsgedicht aufsagte. Sie lebt nicht mehr.

Gemeinschaftliches Singen um den geschmückten und von Kerzen erleuchteten Weihnachtsbaum ist fast ebenso Glaubenssache wie der Anlass dazu. Es gibt gute Gründe, Weihnachtslieder zu verabscheuen, ebenso gute, sie zu mögen. Zu Weihnachten wird die Geburt eines besonderen Kindes gefeiert, das seine Mutter, wie es heißt, unbefleckt empfing. Als Schulkind musste ich lernen, dass es unklug war, an den Weihnachtsmann zu glauben. Später fand ich die Geschichte von Maria und Josef verklemmt und absurd. Inzwischen sperre ich mich nicht mehr so gegen Wunder.

Weihnachten ist ein Mysterium, Musik dafür die adäquate Sprache. Engel, heißt es, blasen Trompete und äußern sich singend im Chor. Unser Singen klingt vielleicht nicht so schön, aber ich behaupte: Es ist ein fernes Echo auf die himmlischen Heerscharen. Kontrapunkt zum Konsumterror, der uns vorher wochenlang ungesund auf Trab gehalten hat. Beim Singen in unserem fröhlich-unzulänglichen Patchworkfamilienchor kommen wir auf festliche und heitere Weise zur Ruhe, und wer weiß, vielleicht erhaschen wir dabei sogar einen Zipfel des Mysteriums. (Tom R. Schulz)

Kontra

Ja, das kann schön sein: zur eigenen Erbauung und sogar der der anderen am Klavier zu sitzen oder hinter dem Cello; Hausmusik nennen Menschen dieses Phänomen. Aber ich weiß nicht, ob meine Eltern wirklich DAS im Sinn hatten, als sie mich im Alter von - keine Ahnung - acht Jahren? mitschleiften in die Räume eines komischen Gebäudes, das sich irgendwie verwachsen und klobig an den zentralen Platz unseres Dorfes drangeklebt hatte. Schräg gegenüber befanden sich der Evangelische Kindergarten und die freiwillige Feuerwehr.

Ich glaube, nur da wäre ich noch weniger gerne hingegangen als zum Musikverein, der für sein Blasorchester über die Dorfgrenzen, ja über den Landkreis hinaus bekannt war!

Damals fing das alles an, das Grauen sozusagen. Ich sollte also ein Instrument lernen, das würde Spaß machen, sagte meine Mutter. Ich durfte mir eins aussuchen, wir saßen an massiven Tischen, unglücklich schauende Kinder und glücklich schauende Eltern. Es gehörte im Dorf zum guten Ton, den Nachwuchs irgendwann dem Musikverein zuzuführen, und so wählte ich gezwungenermaßen die Klarinette, sie wurde gerade von einer gar nicht unhübschen Dame vorgeführt in all ihrer klingenden Pracht. Ein Dreivierteljahr später spielte ich, zusammen mit meinem Bruder (Flügelhorn) "O Tannenbaum" neben selbigem. Meine Eltern saßen zufrieden auf dem Sofa. Mein Vater grinste.

Er sollte das in den kommenden Jahren, immer an Weihnachten, öfter machen. Manchmal prustete er auch drauf los, ganz kurz nur. Im Wohnzimmerschrank standen Beatles-Platten und der gesamte klassische Kanon. Beethoven, Haydn, Mozart. Mein Vater war zwar von der anderen, der naturwissenschaftlichen Fakultät, aber er war von einem bildungsbürgerlichen Ehrgeiz beseelt: Im Bücherregal Nietzsche und Heine, im Plattenspieler Liszt (aber auch mal "Rondo Veneziano", horribile dictu). Ich weiß nicht, ob in der väterlichen Bibliothek auch Pierre Bourdieus "Die feinen Unterschiede" stand. Wenn ja, dann hat er gemeinerweise die Lehre vom kulturellen Kapital, das einer anhäuft (oder eben nicht), ignoriert. Ich hasse das Musizieren, es ist mir für immer und ewig verleidet worden, weil ich, später verstärkt noch durch unsere kleine Schwester (Querflöte), mit meinem gleichaltrigen Bruder Privatkonzerte im Andreschen Wohnzimmer geben musste, zum Amüsement derjenigen, die uns das kostspielige, ungewollte Hobby großzügig finanzierten. "Stille Nacht", angestrengt getrötet neben dem Kachelofen, Herrgott! Die "Konzerte", bei denen nicht nur meine Eltern zuhörten, waren noch viel schlimmer: Unser Blasorchester tat sich vor allem durch die Interpretation von Musical-Klassikern aus der Feder Andrew Lloyd Webbers hervor. "Cats", "Starlight Express", "Phantom der Oper", ich bekam schon damals das Kotzen.

Was ich als Kind dumpf empfand, fließt mir heute in kristallklaren Sätzen aus der Feder: Was für eine hundsgemeine Tat, uns, wo man doch genau wusste, wie niveaulos Blasorchester sind, die in der Weinfest- und Kirchweihsaison feuchtfröhliche Festzelte bespielen müssen, zur musikalischen Erziehung in den Musikverein zu schicken!

Meine Klarinette und ich, das wurde nichts. Vier, fünf Jahre hielt ich durch, dann war Pubertät. Vier, fünf weitere Male musste ich an Heiligabend vor meinen Eltern konzertieren, ich habe keine Erinnerung mehr daran, ich glaube, ich habe sie verdrängt.

Heute spiele ich kein Instrument mehr, ich werde auch nie wieder eines anrühren. Es fehlt mir überhaupt nicht, und manchmal grinst der Vater immer noch an Weihnachten; ich weiß, an was er denkt. (Thomas Andre)