Was von 2010 bleibt, sind die gebrochenen Versprechen der Popkultur. Ein Essay über die moderne Popkultur, von Krisen und Mainstream.

Hamburg. Über die Verbindung von Pop und Kommerz könnte man viel sagen, zum Beispiel und ganz einfach: Pop ist, was sich verkauft. Egal, ob Suppendose oder Musikalbum. Die Krise der Musikindustrie ist in Zeiten der digitalen Umsonstmentalität ein Dauerzustand, erinnert sich jemand wirklich an die Zeit, in der Waggonladungen von LPs und CDs verkauft wurden? Wundert es eigentlich noch jemanden, dass ein Egoshooter-Videospiel das bislang erfolgreichste Popkulturprodukt des Jahres ist? Die "Call of Duty"-Reihe hat bislang einen Gesamtumsatz von fast vier Milliarden Euro generiert; der neue Teil, unlängst erschienen, wurde am ersten Tag fünf Millionen Mal verkauft.

Was das für unsere Gesellschaft heißt, wenn ein Killerspiel die Kassen füllt, oder noch größer: Was das über die Natur des Menschen aussagt, das sei einmal dahingestellt. Der viel wichtigere Befund, im Mikrosystem des Pop zumindest, ist sein grundsätzliches Erschlaffen. Er fliegt nicht mehr, im Gegenteil, er setzt zu einer Bruchlandung an: Auf dem Cover einer der letzten großen Pop-Platten, "Wolfgang Amadeus Phoenix", befindet sich die zischende Pop-Art-Bombe im Sinkflug.

Natürlich ist der Tod der Popmusik schon so oft herbeiargumentiert worden, wie seine Wiederauferstehung mit gegenteiligen Formulierungen behauptet wurde. Aber dass er sich müde niedergelegt hätte wie ein lahmes Tier, das zuvor hechelnd im Hype-und-Innovations-Kreisverkehr sein Leben gegeben hat, das war doch noch nie so deutlich wie heute: Denn 2010 war wieder kein gutes Jahr für den Pop, der eine ganze (Alltags-)Kultur meint und doch in der Musik seine stilprägende Form hat.

2009 erst ging der Pop seines Königs verlustig, als Michael Jackson starb. Einen Superstar, der so erfolgreich den Mainstream bedient, wird es nicht mehr geben; zum Beispiel, weil sich die Aufmerksamkeit der Weltpopgemeinschaft nie mehr auf nur den einen konzentrieren wird. Dass es ja auch noch Jacksons Genius gab, der seinen Pop vermutlich unsterblich macht, führt zu der Frage, ob das Fehlen der Pioniertaten das Hauptsymptom der Krise ist, von deren Existenz manche Auguren schon seit Jahren raunen.

Die Krise des Pop ist natürlich eine ästhetische: Es werden zwar jedes Jahr tolle Popalben veröffentlicht, sie ermüden freilich in ihrer rückwärtsgewandten Seligkeit. Wir reden, wenn es um Superbes wie Kanye Wests "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" oder Deerhunters "Halcyon Digest" geht, um sehr gelungene Entwürfe zeitgenössischen Pops, allein, sie locken, besonders im Falle der letzteren, niemanden hinterm Ofen hervor. Zitatpop (am besten immer: das Zitat des Zitats) ist eine clevere Sache, und der Zeichencode des Durchlauferhitzers Pop ist auf stete Wiederholbarkeit programmiert.

Und die Feier des Hier und Jetzt, um die es im Pop geht, wird jede junge Generation anstimmen. Popkultureller Pessimismus wird von Männern verbreitet, die feststellen, dass sie die ältesten auf einem Popkonzert sind. Aber wie schön wäre es, den Festspeicher zu löschen und noch mal anzufangen? Jede Pose ist wahrscheinlich schon eingenommen, jede ästhetische Strategie erprobt. "Nicht der Pop ist das Problem, sondern die, die ihn nicht mehr hören", sagte hinsichtlich des Wiederholungszwangs ein Kritiker. Vielleicht hat er recht: Siehe die Machtverschiebungen in der medialen Konkurrenz der Alltagspraktiken und Massenzerstreuungen. Die Leute haben mehr Lust zu daddeln als Musik zu hören. Das letzte große Ding, das waren trotzdem Techno und Hip-Hop, es scheint Äonen von Jahren her. Die routiniert angewandte Methode der Bricolage, mit der Popsongs aus Altbekanntem immer wieder neu zusammengesetzt werden, langweilt unendlich, sie muss es tun, wo eine Erfindung die größtmögliche Tat ist.

Aber das Phänomen des Pop wurde 2010 auf viel grundsätzlichere Art und Weise und abseits ästhetischer Überlegungen entzaubert. Es sind die gesellschaftlichen Versprechen des Pop, die nicht mehr eingehalten werden, sie stellen Hedonismus, Selbsterfindung, Teilhabe, Toleranz und Optimismus in Aussicht. Die symbolisch verstandenen Ereignisse, die dem Pop zu schaffen machen, sind schon länger Wirtschafts- und Finanzkrise. Pop ist Materialismus und Konsum, wer würde anderes behaupten?

Die wirkliche Katastrophe für den Glauben an den Pop war das Loveparade-Unglück in Duisburg. Der Pop als Kollektivparty ist an diesem Tag in einem Tunnel(wieder mal) gestorben, und zwar leider ganz real. Und so ist das fade und traurige Abbild des Popgedanken eine todbringende Panik. Oder die Bohlenrampe im TV, die beinah jeden Abend Heerscharen von Nervensägen in unseren Wohnzimmern und, schlimmer, Gehörgängen abliefert. Ihnen steht der Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben. Sie rebellieren nicht, sie wollen Geld verdienen. Das ist okay, das ist Pop; es erinnert uns aber daran, was zu seinem Niedergang beigetragen hat: Seit wir alle wissen, was Freiheit bedeutet, seit wir frei sind, kommt Pop als Umbruchindikator und -beförderer keine Bedeutung mehr zu. Die Modernisierung der westlichen Gesellschaft ist an ihr Ende gekommen. Es war kein Wunder, dass Techno in der Wiedervereinigungsstadt Berlin, wo der gescheiterte Kommunismus viel Leerstand generiert hatte, zu voller Blüte fand.

Schön soll's gewesen sein, damals.