Hamburg. Neue Musik hat sich vor langer Zeit den Ruf eingebrockt, anstrengend zu sein, bierernst, schief, abstrakt, was zum Zahnweh kriegen. Der amerikanische Komponist John Cage hat viele Wege aus diesem Bedeutungsghetto gefunden, einer war sein listiger Wunsch Happy New Ears! zum Jahreswechsel 1963. Neue Musik als Quell der Freude zu erleben ist nun auch das verwegene Unterfangen zweier Hamburger Geschäftsleute. Am Donnerstag boten sie im MedienCampus Finkenau den Auftakt einer hoffnungsvollen, mit drei Terminen pro Jahr jedoch noch arg spärlich dimensionierten Konzertreihe, die Cages guten Wunsch zum Titel hat: HappyNewEars.
Ausschließlich estnische oder in Estland lebende Komponisten standen auf dem Programm, das das Nyyd Streichquartett aus Tallinn klug zusammengestellt hatte. Eingerahmt von „Summa“ und „Fratres“, zwei Klassikern Arvo Pärts, der Heiligenfigur osteuropäischen Komponierens, fanden sich Werke, die sich stückweise von der bittend-weltflüchtigen Geste Pärts entfernten, um schließlich temperamentvoll wieder zu ihr zurückzufinden. Galina Grigorjevas „Ad infinitum“ strebte als endloser Kanon noch ähnlich nach Transzendenz alles Irdischen, Helena Tulves irisierend schillerndes, von Flageoletts, intensiver Erkundung des Diskantbereichs und Bogenrauschen auf den Geigenstegen wie von innen leuchtendes Stück „nec ros, nec pluvia“ bot dazu so etwas wie einen komplementären Gegenentwurf: nicht weniger das Jenseits suchend, aber radikal anders in der Wahl der Mittel.
Das Streichquartett des früh verstorbenen Lepo Sumera, einer der prägenden Kompositionslehrer Estlands, der auch Erkki-Sven Tüür einige Zeit unterrrichtete, leitete dann über in den diesseitigeren Teil des Abends. Sumeras fast didaktisch klar aufgebautes Werk führte die Zuhörer quasi zum Zugucken durch ein Möglichkeitsfeld zeitgenössischen Umgangs mit Artikulation und Dynamik. Erkki-Sven Tüür, heute neben Pärt der meistgespielte Komponist Estlands, präsentierten die Nyyds mit einem Jugendwerk, das ihn als Sumeras wie Pärts Lehren gleichermaßen bündelnden und mit der eigenen Sozialisation in der Rockmusik osteuropäischer Prägung legierenden Zeitgenossen zeigte. Mit etwas Phantasie ließ sich die von den vier Streichern gespielte Musik als das kammermusikalische Äquivalent einer avancierten Art-Rock-Komposition deuten. Bei Pärts „Fratres“ schlichen sich in das sonst untadelige und in zahllosen Details durchgearbeitete Zusammenspiel des Quartetts kleine Unschärfen, die eine derart transparente Musik unbarmherzig und sofort offenlegt.
Von den 100 kurzerhand gekauften Klappstühlen zur Premiere blieb die Hälfte ungenutzt. Bei der zweiten Ausgabe der HappyNewEars hoffen die beiden Veranstalter aus Leidenschaft auf besseren Besuch an noch ungekanntem Ort – am 19. Mai 2011. Dann führt das Berolina Trio zeitgenössische Musik aus Polen auf.
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