Warum die Öffentlich-Rechtlichen weniger Talkshows und mehr Dokumentarfilme brauchen - das Plädoyer einer Hamburger Filmemacherin.

Die Reporterin und der Dokumentarfilmer gehen dahin, wohin Zuschauer normalerweise nicht kommen: Sie sind heute im Puff, morgen im Kloster, begleiten Kinder auf Wochenendtouren zwischen Papa und Mama, zerrissen von dem sonst überall für gültig erklärten Modell Patchworkfamilie. Reporter besuchen Familien, deren Väter in Kabul und Kundus kämpfen, setzen sich ein halbes Jahr ins Arbeitsamt und beobachten den Alltag mit Hartz IV oder richten sich vier Wochen in einer Schule auf der Veddel ein.

In einer Talkshow können eloquente Politiker, Arbeitgeberpräsidenten, Gewerkschafter und Parteigrößen schlau daherreden, im besten Fall die Situation analysieren, Abhilfe fordern, Nachbesserungen versprechen - aber das Leben selbst, das tritt in der Reportage, in der Dokumentation auf: lebendige Menschen, deren Schicksal, deren Leben, Wut, Verzweiflung, Zorn, Tränen, Begeisterung und Freude uns darauf hinweisen, wo etwas schief- oder auch gut läuft in diesem Land. Das Leben lässt sich nicht "vertalken".

Menschen vor die Kamera zu bringen, die sich und ihre Wohnung öffnen, die ihre Geschichte erzählen, kostet Zeit, Vertrauen, beharrliches Hinsehen. Man kann sie nicht drei Tage vorher anrufen und sie in die Talkshow einladen. Kaum würden sie dort ihre Geschichte erzählen. Und selbst wenn - es fehlen ja doch die Bilder: Erst ein sechsjähriger Junge, der verloren in der Business Class sitzt und seine Frequent-Traveller-Karte zückt, zeigt dem Zuschauer, was es wirklich bedeutet, wenn jede dritte Ehe geschieden wird. Ein Mann, der unter der Palme in Thailand sitzt und herumdröhnt, er zahle keinen Pfennig für seine Kinder, sagt mehr über Rabenväter als jede Statistik. Eine Lehrerin, die sich mit ihrem Erstklässler nur mit Händen und Füßen verständigen kann, sagt mehr als alle Studien über mangelnde Deutschkenntnisse von Einwandererkindern. Eine Frau, die einräumt, sie arbeite lieber schwarz und beziehe Hartz IV, sagt mehr über den Missbrauch unseres Sozialsystems als Zahlen aus Nürnberg.

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Der Reporter klärt auf, wo etwas unklar ist, deckt auf, wo etwas verborgen ist, legt den Finger in die Wunde, beschreibt, rührt an, bringt Menschen in Bewegung.

Damit er das schafft, braucht er ein breites Publikum und eine gute Sendezeit im Hauptabendprogramm. Falls die Intendanten der ARD heute tatsächlich beschließen, den letzten in der Prime Time verbliebenen Sendeplatz für Dokumentarfilme - Montagabend, 21 Uhr - zugunsten einer weiteren Talkshow zu streichen, wäre das ein verheerendes Signal. Reportagen und Dokumentationen fänden dann nur noch zu nachtschlafender Zeit statt - aber wer morgens um sechs zur Arbeit fährt, kann nicht nachts fernsehen. Und warum wir fünf Talkshows im Ersten brauchen (Anne Will, Frank Plasberg, Sandra Maischberger, Reinhold Beckmann, Günther Jauch), hat dem Publikum keiner der genialen Programmplaner bisher erklärt.

Die ARD gehört aber nicht den Intendanten und Programmdirektoren, sondern immer noch dem Publikum. Das Argument ist mal wieder die Quote. Dokumentarfilme erreichen selten zweistellige Quoten. Plasberg schon, also ist die nun angedachte die einfachste Lösung. Aber für einfache Lösungen werden Intendanten nicht bezahlt.

Rita Knobel-Ulrich drehte u. a. "Mutti muss arbeiten" über das Unterhaltsrecht, "Mit dem Zug von Berlin nach Peking", "Die Kaviar-Mafia".