Wolfgang Herrndorf und Gerhard Henschel schreiben so nostalgische wie geistreiche Adoleszenzromane für Erwachsene.

Hamburg. Der verteufelt trickreiche Erzähler im "Roman unserer Kindheit" war noch so etwas wie eine Bremse. Er traute der Jugend und ihren Segnungen nicht ganz. Er versteckte sich; manche Interpreten vermuteten ihn noch im Mutterleib einer der Erzeugerinnen der Abenteurerbande in Georg Kleins ausgezeichnetem Roman , der im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Die Bücher des Herbstes sind da anders. In Gerhard Henschel s "Liebesroman" und Wolfgang Herrndorfs "Tschick" sind die Erzählerstimmen unverfälscht, hier spricht das erlebende Ich, und es spricht ganz herrlich.

Es sind ausnahmslos beeindruckende Beispiele der Kindheits- und Jugendprosa, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden; die sentimentale Reise in die Vergangenheit erfreut sich neuerdings großer Beliebtheit. Dabei wird die Altersgrenze, die das Ende der Kindheit darstellt und die sprachlich wie kognitiv nie wieder überschritten werden kann, von den Autoren je unterschiedlich behandelt. Klein erzählt eine schaurig-spannende Abenteuergeschichte, die getreulich die Welt der beginnenden 1960er-Jahre einfängt, indem er den Zauber der Kindheit prinzipiell als unerreichbar begreift. Sein Erzähler berichtet alles andere als unverstellt vom "Großen Bruder", den "Witzigen Zwillingen" und der "Schicken Sybille", um einige der minderjährigen Helden in seinem "Roman unserer Kindheit" beim Namen zu nennen.

Sie kämpfen in diesem anspielungsreichen, erzähltechnisch anspruchsvollen und trotzdem gefühligen Roman um ihre Freiheit und gegen imaginierte Gefahren, wie sie fiebrigen Kinderfantasien entspringen. "Was ist die Kindheit für eine magische Zeit", denkt man bei der Lektüre und kennt diese Orte, die Kinderseelen erschrecken (hier ist es der "Bärenkeller" einer vereinsamten, verrottenden Wirtschaft), von früher.

Obwohl auch Kleins "Roman unserer Kindheit" eine Kinderwelt schildert, die von der erwachsenen noch nichts weiß, ist sein ambitioniertes Sprachspiel eines, das das, was wir alle zurückgelassen haben, nicht imitiert. Es gibt kaum direkte Rede in seinem Text, und die Bewusstseinsströme der Figuren werden kaum je ungefiltert wiedergegeben. Dies führt vor allem dazu, dass sein Roman längst nicht so lustig und liebenswert daherkommt wie die ungehemmt nostalgischen Werke Henschels und Herrndorfs. Wolfgang Herrndorf hat mit "Tschick" eine der größeren Überraschungen der Saison vorgelegt, sein Verlag musste wenige Wochen nach Erscheinen bereits eine dritte Auflage drucken. Kein Wunder: Wer beim Road-Trip der beiden Teenager Maik und Tschick, dieser so unterschiedlichen Freunde, Seite um Seite verschlingend mitfährt und nicht wieder jung sein will, der war es nie.

Ach, du schöne Jugend! Mit einem derangierten Lada, den sie geklaut haben, karriolen die beiden 14-Jährigen durch die ostdeutsche Brache. Sie werden von einem alten Mann beschossen, von der Polizei verfolgt, überschlagen sich mit ihrem Wagen, brechen sich den Fuß. Maik, die Hauptfigur, hat überdies seine Holden-Caulfield-Momente.

Wir betrachten ein literarisches Erwachsenwerden und finden wie immer den "Fänger im Roggen". Herrndorf, der in Hamburg geborene studierte Maler, wurde bereits wegen seines Debütromans "In Plüschgewittern" (2002) von all denen innig geliebt, die Coming-of-Age-Geschichten mögen. Wenn der Mensch, der eben noch Kind war, an die Tür des ernsten, des langweiligen Lebens pocht, dann tut er vieles zum ersten (ein Mädchen küssen) und vieles zum letzten Mal (mit einem gestohlenen Wagen den eigenen Namen in ein Weizenfeld schreiben).

"Tschick" ist eine klassische Initiationsgeschichte, in der Perspektive und Reflexionsniveau des Heranwachsenden zu mancher Pointe taugen. Auch aus Sicht des erwachsenen Lesers: Der muss schmunzeln über die Sprache und die Haltung der Jugendlichen, die die Schuld noch kaum kennen. Ihre Erlebnisreise ist auch ein Plädoyer für den Glauben an das Gute im Menschen. Und eine Erinnerung an Zeiten, als das Leben noch vor einem lag: als Versprechen. Ein Versprechen ist die Liebe für den 16-jährigen Martin Schlosser in Gerhard Henschels "Liebesroman". Der ist die inzwischen dritte Lieferung Henschels, der sich zur Aufgabe gemacht hat, das Leben des (wie er selbst) 1962 geborenen Knaben Martin zu erzählen.

Der Knabe, der er in "Kindheitsroman" und "Jugendroman" war, ist Martin im "Liebesroman" nicht mehr. Die große Schlosser-Historie ist dabei ein Archiv, in dem die private Geschichte eines 70er-Jahre-Lebens und die politischen Geschehnisse Platz finden. Wer damals groß wurde, wird sich an ähnlich erschreckende und köstliche Erlebnisse erinnern - alle anderen zucken unter dem kräftigen Pointengewitter, das unfassbar witzig die Absurditäten der Familienhölle vorführt.

Henschel ist der satirischste Realist unter den deutschsprachigen Autoren. Was Herrndorf und Henschel eint, ist der sentimental verhangene Blick aufs Früher. Die Erzählweise ist unprätentiös, sie kennt keine falsche Harmonie. Im wunderbaren "Tschick" sind es die Eltern Maiks, die explizit genug darstellen, wie es zugeht in der Welt der "Großen": Er führt eine außereheliche Beziehung mit einer Jüngeren, sie säuft.

Am Ende versenken Mutter und Sohn das Mobiliar im Pool, dann springen sie ins Wasser. Maik guckt sich die Welt vom Boden des Pools aus an - "und ich freute mich wahnsinnig. Weil, man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange." Die Zeit wird Maik trotzdem nicht anhalten können.

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt. 254 S., 16,90 Euro; Gerhard Henschel: Liebesroman. Hoffmann und Campe. 576 S., 25 Euro