Westernhagen sehnte sich nach Veränderung. Mehr den Blues singen und weniger “Sexy“. Seinen Fans gefiel das nicht unbedingt.

Hamburg. "Sägsäää!" Unter den 10 500 Westernhagen-Fans in der O2 World tummelt sich neben uns auch eine Gruppe Mittzwanziger, lenzt Bier aus Marius-Bechern und verlangt schon vor Konzertbeginn lautstark nach "Sexy" und "Freiheit". Aber Marius Müller-Westernhagen kann sie nicht hören und beginnt den Abend mit "Jesus".

Da ist sie wieder, die markante Stimme, die klingt wie ein Rinderbulle, der sich zwecks Begattung an einer Kuh-Attrappe abarbeitet. Da sind sie wieder, die dünnen Beine, auf denen der Neu-Berliner und langjährige Wahlhamburger wie ein Storch durch den Salat stelzt. Unvergleichlich. Eine Marke. Lieben werden wir ihn nie, den dünnen Hering. Aber respektieren.

Sein aktuelles, nicht nur durch die aufspielenden Musiker aus Austin und Dallas sehr amerikanisch geprägtes Album "Williamsburg" zum Beispiel ist nicht übel. Und gerade live werden entsprechende Lieder wie "Wir haben die Schnauze voll" sehr kompakt und direkt präsentiert. Roher Boogie poltert aus den Schlagzeugkesseln, und Flaschenhälse schwirren über edle Duesenberg-Gitarren. Die Konzert-Dimensionen der Rolling Stones hat Westernhagen bei seinem zwischenzeitlichen Live-Abschied 1999 verlassen, aber der Sound ist genauso alte Schule. Gut so.

Westernhagen ist "Fertig", freut sich auf jeden neuen Song mit dieser Band und ist daher hinter seiner blau getönten Sonnenbrille "heute nah am Wasser gebaut". Die Nachbargruppe ist eher nah am Getränkestand gebaut und wird langsam ungeduldig, pfeift bei "Typisch Du", der Vorstellung der Band bei "Alleine", und überhaupt: "Sägsäää!"

Immerhin: Die langjährige Backgroundsängerin Della Miles ist sexy und pirscht sich für ein Duett an Marius ran: "Lieben werd ich dich nie". Das erntet Applaus, und tatsächlich wird auch neues Material wie "Schinderhannes" und "Hey Hey" verdientermaßen artig beklatscht. Westernhagens Dank "Ich bin so unfassbar glücklich, dass ihr meine neuen Songs so gut annehmt" kommt von Herzen. Ein Best-of-Programm abzuspulen ist seins nicht. Und doch kommt er natürlich nicht um die schon in den 90er-Jahren von uns überhörten und überspielten Lieder herum.

"Der Erfolg ist eine Hure", erzählt Westernhagen in der kürzlich erschienenen Filmbiografie "Zwischen den Zeilen" und spricht so allen Bands und Künstlern aus der Seele, die seit drei, vier Jahrzehnten aktiv sind, aber nur auf ihre Klassiker reduziert werden. Wer 50 Euro und mehr für eine Karte bezahlt, möchte zu Recht seine Favoriten hören. Aber der Star muss diese seit Dekaden Abend für Abend aufführen und würde sie lieber weglassen. Oder zumindest mal etwas variieren. Ein nicht einfacher Balanceakt.

"Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz" beginnt folgerichtig zuerst als erdiger, verschleppter Blues, bevor es in gewohntes Partykeller-Tempo übergeht. Und dann endlich: "Sexy". "Sägsäää!" Der Saal leckt hohe Stiefel, "was hat der alte Mann dir denn getan".

Die ersten Zugaben "Mit 18" und "Ein Mann zwischen den Zeilen" werden neben uns mit - es nimmt kein Ende - "Sägsäää!" quittiert, auch vor der Bühne wird die Herde an der Hit-Tränke unruhig. "Was wollt ihr eigentlich? Seid doch mal höflich, ich hab euch auch etwas mitgebracht", besänftigt der Rock-Nurejew die Meute und überlässt Bühne, LED-Leinwände und Band Della Miles für ihr Solo "Baby I Want You". Anschließend ist Marius wieder da mit "Wieder hier", das schon ein schöner Abschluss für ein Konzert wäre.

Es folgen noch vier weitere Zugaben: "Lichterloh", das berührende "Engel" und natürlich "Freiheit". Seit 1990 dürfen bei "Freiheit" die Aufforderungen "wie wir heute Abend hier" und "so kommt jetzt" nicht fehlen, da ist er doch ganz der Entertainer, der seine künstlerische Freiheit für die Hörgewohnheiten von Teilen des Publikums aufgibt. Aber nach "Johnny Walker" und 150-Konzert-Minuten ist der Balanceakt überstanden. Und gelungen, nicht überragend, aber gut.

Nur im Shuttle-Bus haben einige zusteigende Fahrgäste noch nicht genug: "Sägsäää!" Och nö. Taxi!