Wie viel Privatleben gibt die Welt von Google Street View her? Oberstaufen im Allgäu machte gestern den Anfang und ging als erster Ort in Deutschland online. Eine Spionage im 360-Grad-Panorama

Großvater ist früher auch nach Oberstaufen gefahren, ins Allgäu. Zu der Zeit, als es noch kein Internet gab, sondern bloß vierfarbig gedruckte Kataloge von Neckermann mit Fotos von Kurhotels und Landschaften. Die Bilder waren etwa so groß wie Briefmarken und auf ihnen war praktisch nichts erkennbar. Damals war das Reisen noch mit Überraschungen verbunden, mit guten wie mit schlechten. Aber seit gestern ist es damit vorbei, jedenfalls soweit es Oberstaufen betrifft, korrekt Markt Oberstaufen, den ersten deutschen Ort, den man über Google Street View im Internet erkunden kann.

Darauf sind die Oberstaufener sehr stolz, aber sie haben nicht damit gerechnet, dass am Premierentag gleich elf Fernsehsender berichten würden, einige sogar live. Und auch die Google-Leute, die sich zum Festakt mit Alphornbläsern und Weißwürsten angesagt hatten, allen voran der Pressesprecher Deutschland, Kay Oberbeck, dürften glücklich gewesen sein: endlich mal ein Ort, der kapiert hat, was für ein gigantisches Potenzial in Street View steckt, und das ausgerechnet im tiefsten Bayern, von wo doch die Ilse Aigner herkommt, die streitbare Verbraucherschutzministerin und Speerspitze im Kampf für mehr Datenschutz.

Klick für Klick an getünchten Hausfassaden vorbei

7300 Einwohner zählt dieser beliebte Ferienort, der jedoch mehr Hotels aufzuweisen hat als Street-View-Verweigerer. "Derer gibt es nach letztem Stand 16, Hotels haben wir 20", sagt der Erste Bürgermeister, Walter Grath sein Name, 63 Jahre alt, schlicht. Er ist erst am frühen Nachmittag aus dem Festzelt nach Hause gegangen, um sich endlich auch einmal selbst durch seinen Ort zu klicken.

Die virtuelle Besichtigungstour beginnt unvermittelt in der Bürgermeister-Hertlein-Straße, etwa auf der Höhe des Vital- und Golfhotels Hochbuehl, eines Vier-Sterne Hauses, vor dem einige Limousinen der oberen Mittelklasse parken, die Nummernschilder "gepixelt", das heißt unlesbar und somit datenschutzkonform. Klick für Klick tastet man sich voran, an frisch getünchten Hausfassaden, Blumenkästen vorbei, in denen Geranien blühen. Die Nebenstraße Auf der Höh wird links liegen gelassen, und dann, nach dem vierten Klick, entdeckt man linker Hand den ersten Oberstaufener Street-View-Verweigerer. Das weiße Einfamilienhaus besitzt offenbar blau gestrichene Fensterrahmen, aber mehr ist beim besten Willen nicht zu erkennen. Und auch sonst ist auf der Bürgermeister-Hertlein-Straße in Markt Oberstaufen nicht viel los. Bis auf den Mann in mittleren Jahren, der zum Zeitpunkt der Aufnahme am Franz-Mader-Weg gerade seinen Hausmüll entsorgt.

Nächster Höhepunkt der digitalen Ortsbegehung ist ein offenes Toi-Toi-Chemieklo, das an der Ecke Rottenfelsstraße offenbar vergessen wurde. Dort, unter den Hausnummern 8a bis 8d, stehen vier schmucke Reihenhäuser, neu gebaut, mit großzügigen Terrassen, auf denen unterschiedlich bepflanzte Blumenkübel stehen. Der Rasen auf den handtuchgroßen Grundstücken ist frisch gesät. An dieser Stelle sollte man jedoch bedenken, dass der Rasen inzwischen gewachsen und bestimmt schon mehrmals gemäht wurde.

Auch das blaue Chemieklo sollte inzwischen abtransportiert sein, wie auch die teilweise Erneuerung der Hugo-von-Königsegg-Straße ab der Johann-Schroth-Straße längst der Vergangenheit angehört. Street View kommt schließlich zeitverzögert daher. Die Aufnahmen aus Markt Oberstaufen sind Anfang Juli entstanden, sodass sich beim unkundigen Betrachter der Eindruck manifestieren könnte, im Allgäu herrsche stets Postkartenwetter.

Es wird Zeit, das Zentrum Markt Oberstaufens zu entdecken. Am besten, man biegt dazu an der Isnyer Straße links ab und klickt sich den Straßenverlauf weiter voran, bis die Isnyer Straße in die Lindauer Straße übergeht. Der Blick bleibt dabei stets ein oberflächlicher. Würde man jedoch einen oder mehrere Passanten kennen , würde man sie anhand ihrer Physiognomien oder Frisuren wahrscheinlich auch auf der Straße erkennen. Erkennen können, zumindest mit einer kleinen Chance, trotz der gesichtslosen Köpfe. Noch enttäuschender für den kleinen Voyeuristen in uns allen fällt das Lugen in fremde Fenster aus, sogar dann, wenn keine Gardinen stören. Zwar bietet Street View eine dreistufige Zoom-Funktion, aber je näher man rangeht, desto unschärfer wird das Bild. Das gilt auch für die Schaufensterauslagen, etwa von der Buchhandlung Edele (Nummer 13, Hugo-von-Königsegg-Straße), oder das benachbarte Eiscafé Venezia, das zur Zeit der Panorama-Produktion sein 25-jähriges Bestehen feierte. Eissorten? Fehlanzeige.

Angefangen hatte in Markt Oberstaufen alles mit einer Torte. "Vier Euro und 95 Cent", erzählt die Tourismus-Chefin, Bianca Keybach ihr Name, 31 Jahre alt, "hat uns im Prinzip die ganze Aktion gekostet." Dafür kaufte die Gewinnerin des Deutschen Tourismuspreises 2009 sechs Eier, Butter, Mehl und Zuckercouleur und stellte nach erfolgreichem Backvorgang ein Bild dieser Torte ins Netz, auf der geschrieben stand: "Street View - Willkommen in Oberstaufen". Der Rest ist bereits Tourismuswerbungsgeschichte, denn der Suchmaschinengigant biss an. "Die Ortschaft war regelrecht euphorisch", erinnert sich Google-Sprecher Oberbeck an die erste Kontaktaufnahme.

"Ja, da haben wir nicht lang gefragt", pflichtet ihm der Erste Bürgermeister Walter Grath bei, "denn wir sehen Google als Touristenort ja positiv. Wer sich nicht repräsentiert sehen wollte, konnte jeder für sich selbst entscheiden. Gezwungen haben wir jedenfalls niemanden." Es wäre wahrscheinlich keine große Überraschung, wenn der Deutsche Tourismuspreis 2010 ebenfalls nach Markt Oberstaufen geht.

Es könnte wahrscheinlich einiges noch besser, noch genauer, noch schärfer abgebildet werden, damit sich die Proteste gegen den befürchteten etwaigen Datenmissbrauch und Eingriffe in die Intimsphäre wenigstens lohnen. So ist bei der Bildmontage dem Kur- und Ferienhotel Bingger in der Lindauer Straße Nummer 24 das "d" im "und" abhanden gekommen, was nicht gerade professionell ausschaut für ein Drei-Sterne-Haus. Und beim Juwelier Hollfelder, der mit sechs Filialen immerhin zu den größten 20 deutschen Goldschmieden gehört, ist das Firmenemblem teilweise "weggepixelt", was die Marketingchefin, Susanna Karcher ihr Name, 32 Jahre alt, "sich noch nicht ansehen konnte, weil der PC den technischen Anforderungen, die Street View an die Nutzer stellt, offenbar nicht genügen würde", sagt sie. Und wer nun knapp 800 Kilometer entfernt dank Google vor dem Geschäft für Übergrößen "Meine Größe" steht, ist zwar darüber informiert, dass Frauen sich hier bis zur Größe 56 einkleiden können, doch die modischen Kreationen selbst bleiben unscharf. Wahrscheinlich ist das auch ganz gut so.