Der Held des Buches ermittelt im 19. Jahrhundert in Hamburg. Der historische Kriminalroman erschien erstmals im Jahr 2002.

Hamburg im Frühjahr 1882: In den frühen Morgenstunden treibt ein Segelschiff die Elbe hinauf. Der Dreimaster, der im dichten Nebel kaum wahrzunehmen ist, kollidiert mit einem Frachtkahn, den er zu versenken droht. Aber die Mannschaft reagiert nicht, auch die Signale der Altonaer Hafenaufsicht bleiben unbeantwortet. Als Beamte der Kriminalpolizei schließlich im Morgengrauen das Schiff betreten, bietet sich ihnen ein Bild des Grauens: Überall an Bord liegen Leichen, das Zwischendeck ist mit leblosen Körpern übersät. Schaudernd stehen die Polizisten vor dem Besanmast, an den die Leiche des Kapitäns genagelt ist.

Mit dieser unheimlichen Szene, die an "Das Gespensterschiff" des schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff erinnert, beginnt Robert Brack seinen historischen Kriminalroman "Das Totenschiff von Altona", den er 2002 nicht zufällig unter dem Pseudonym Virginia Doyle veröffentlicht hat. Conan Doyle ist der Autor der Sherlock-Holmes-Romane, und auch Brack erzählt eine Detektivgeschichte, wobei sein Ermittler - anders als Sherlock Holmes - kein Profi ist, sondern ein Amateur, der ebenso zufällig wie unschuldig in eine Mordaffäre verstrickt wird und nicht müde wird, die Hintergründe dieses Kapitalverbrechens, das auf geheimnisvolle Weise mit dem in Altona gestrandeten Totenschiff verbunden zu sein scheint, aufzuklären. Dabei hätte Jacques Pistoux eigentlich anderes zu tun. Der Franzose ist gerade in Hamburg eingetroffen und hat eine Stelle als Chef des Bankettservice im Hotel de l'Europe an der Binnenalster angetreten.

KRIMI-BIBLIOTHEK: DAS HOCH IM MORDEN

Der Meisterkoch, dessen Ermittlerqualitäten Krimifreunde schon aus einer Reihe früherer Virginia-Doyle-Romane kennen, ist etwas verwundert über die kulinarischen Vorlieben der hanseatischen Gesellschaft, fühlt sich aber im gründerzeitlichen Hamburg außerordentlich wohl - trotz des überwiegend schlechten Wetters. In einem jener zahlreichen Briefe, in denen er seinem Freund Auguste Escoffier, dem Direktor eines Pariser Luxushotels, seine Erlebnisse schildert, heißt es: "Das Hotel de l'Europe liegt an einem Binnensee namens Alster und kann sich in Ausmaß und Pracht mit jedem Pariser Haus messen. Die zahllosen Kanäle der Stadt, über die Brücken führen, und die eleganten weiß schimmernden Gebäude erinnern mich dagegen an Venedig."

Gleich am Anfang seiner Tätigkeit kann Pistoux seine Fähigkeiten als Spitzenkoch und Küchenorganisator unter Beweis stellen, denn der Reeder Jakob Godefries gibt ein großes Bankett, um seine ebenso schöne wie stolze Tochter Henriette endlich unter die Haube zu bringen. Ausgerechnet zwischen ihr und dem alles andere als standesgemäßen Koch entspinnt sich nach und nach eine Liebesaffäre, die auch im angeblich so liberalen republikanischen Hamburg eigentlich tabu sein müsste.

Für Godefries, dessen Name sicher nicht zufällig an die berühmte Hamburger Reederdynastie Godeffroy erinnert, spielt Geld auch in kulinarischen Fragen keine Rolle, und Pistoux kann alle Register der feinen französischen Küche ziehen, die er geschickt auf die speziellen Bedürfnisse der Hamburger Bürger zuzuschneiden versteht.

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Doch zu vorgerückter Stunde, als der umsichtige Bankettchef den durch allzu üppigen Champagnerkonsum etwas derangierten Chefredakteur des "Hamburger Beobachters" zur Erholung in einem Separee ablegen will, entdecken Koch und Journalist die Leiche eines Mannes, der eigentlich gar nicht hierher gehört, den Pistoux aber bei einer Vorsprechung auf dem godefriesschen Anwesen in Teufelsbrück zufällig gesehen hat. Sofort wird Hauptmann Petersen von der Hamburger Polizeibehörde, der auch zu den Gästen zählt, hinzugerufen. Aber Petersen ist offenbar weniger an der Aufklärung des Falls interessiert, sondern will eine schnelle und möglichst diskrete Lösung.

Pistoux ist dagegen ganz in seinem Element, doch er hat gleich zwei Probleme. Einerseits entdeckt er, dass die von ihm geliebte Henriette auf irgendeine Weise mit dem Fall zu tun hat, und zum anderen legen ihm sowohl sein Chef als auch Hauptmann Petersen dringend nahe, die Finger von der äußerst delikaten Angelegenheit zu lassen. Wer Pistoux' kriminalistische Leidenschaft kennt, weiß natürlich, dass er sich nicht daran halten wird.

Geschickt verknüpft Brack/Doyle die einzelnen Handlungsfäden zu einem Fall, der immer weitere Kreise zieht und dabei zugleich ein Schlaglicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse des gründerzeitlichen Lebens in Hamburg wirft. Da geht es um das große Geschäft mit den Millionen Auswanderern aus ganz Deutschland und Osteuropa, die vielfach unter menschenunwürdigen Bedingungen auf den Schiffen Hamburger Reeder in die Neue Welt gebracht wurden. Dass viele von ihnen die Überfahrt nicht überleben, wird billigend in Kauf genommen. Aber es geht auch um Immobilienspekulation und Stadtentwicklung, um das erbärmliche Leben in den Gängevierteln der Neustadt und die stilvollen Gesellschaften der betuchten Hanseaten.

Brack hat auch Details genau recherchiert und kann ungemein anschaulich erzählen. So ist dieser spannende Krimi zugleich eine Zeitreise in das Hamburg der 1880er-Jahre. Wir begleiten Pistoux nicht nur in die vornehmen Elbvororte, sondern auch in die Spelunken der Neustadt, in die Vergnügungslokale und Etablissements von St. Pauli, aber auch zu einem Kaffe in den Alsterpavillon.

"Das Totenschiff von Altona" bietet eine spannende, gleichzeitig solide erzählte Krimihandlung und verbindet diese mit einer genau recherchierten Milieustudie des gründerzeitlichen Hamburgs. Außerdem erfährt der Leser viel über die kulinarischen Gewohnheiten und Vorlieben der guten Hamburger Gesellschaft. Einerseits sind die Hanseaten nüchterne Protestanten, andererseits Genießer. Einerseits sparsame Kaufleute, andererseits ist ihnen durchaus bewusst, dass Qualität - auch in kulinarischer Hinsicht - ihren Preis hat. Anders wäre die Existenz eines Luxushotels wie des L'Europe, das an Traditionshäuser wie das Vier Jahreszeiten erinnert, gar nicht denkbar.

Und so läuft einem beim Lesen das Wasser im Munde zusammen, denn der Krimi klingt aus mit dem "Hamburg-Kochbuch" des Jacques Pistoux, das Rezepte für "Gänsekeule süßsauer", "Lob's Course a la Crème" oder "Aal in Gelee" enthält. Appetitlicher kann ein Krimi kaum sein.