Die Krimi-Reihe des Abendblatts beginnt mit dem Roman “Marionetten“. Carré auf den Spuren der Drahtzieher des Terrorismus in Altona.

Er stand ganz am Ende der Halle, zwischen einer Marmorsäule und Ölgemälden von Hanseschiffen, bewacht von dem verdrossen blickenden Wilhelm II., dessen Konterfei in meerblaue Kacheln gebannt war." Wer sich mit David Cornwall, wie der britische Bestsellerautor John le Carré mit bürgerlichem Namen heißt, zum Gespräch trifft, den bittet er ins gediegene Hamburger Atlantic-Hotel - und zugleich direkt in die Szenerie seines letzten Romans. Eine Umgebung, die ihm vertraut ist, die er für seinen Protagonisten Brue nicht erst erfinden, sondern nur aus der Wirklichkeit übernehmen musste, und die auch für ihn selbst - diesen weißhaarigen Gentleman mit seinen buschigen Augenbrauen und seiner dezent warmherzigen, höflichen Art - wie der natürliche Lebensraum wirkt.

Unterschätzen jedoch sollte man diesen Herrn bei aller Distinguiertheit keineswegs. Der 1931 in der englischen Grafschaft Dorset geborene le Carré versteht es zu beobachten und seine präzisen Eindrücke und Einschätzungen zu fesselnden Geschichten zu verdichten. Seit er 1963 mit dem Spionage-Thriller "Der Mann, der aus der Kälte kam" mit Aplomb die literarische Bühne betrat und weltweit gelesen wird, vollbringt er regelmäßig das Kunststück, eine breite, ganz heterogene Leserschaft und zugleich die Feuilletons zu begeistern. "Ein Roman von John le Carré sagt mehr als tausend Leitartikel", schwärmte einmal ein Kritiker. Und das, muss man hinzufügen, so ganz ohne Arroganz, erhobenen Zeigefinger oder schreiberische Selbstverliebtheit. Ein Moralist allerdings, das ist dieser Autor ganz sicher.

In seinem kenntnisreich komponierten Roman "Marionetten", der im englischen Original den Titel "A Most Wanted Man" trägt, zeichnet John le Carré das düstere Bild einer Post-Nine-Eleven-Gesellschaft, die sich nicht nur durch den Terror, sondern auch (und vielleicht entscheidender) durch den Krieg dagegen verändert hat. Manch eine Paranoia schafft sich ihre eigenen Kreaturen: Die handelnden Personen werden zu Getriebenen, zu hektisch Dauerreagierenden und hilflosen Marionetten ihrer eigenen Angst.

+++ John Le Carre im Interview +++

Im Zweifel gegen den Angeklagten, scheint die Maxime der Stunde zu sein. Zu spüren bekommt sie der undurchschaubare Tschetschene Issa, ein illegaler Einwanderer mit Folterspuren auf dem jungen Körper und einem seltsam dicken Bankkonto, der wie aus dem Nichts in Hamburg auftaucht und bei einer türkischen Familie in Altona Unterschlupf findet.

Sein ungeklärtes Woher und Wohin, die Umstände seiner ominösen Reise, sein zerschundener, schmaler Körper und das beträchtliche Vermögen sind mit dafür verantwortlich, dass sich die Wege reichlich unterschiedlicher Personen- und Gesellschaftskreise kreuzen: Da ist der gediegene Privatbankier Brue, assimilierter Hanseat mit schottischen Wurzeln und einer natürlich Bridge spielenden Ehefrau, da ist die engagierte junge Menschenrechtsanwältin Annabel aus bestem Hause, da ist die verunsicherte türkische Mutter mit ihrem Sohn - und auch die Aufmerksamkeit der Geheimdienste ist rasch erregt, die schließlich schon einmal übersahen, dass sich Hamburg als Schläferstadt für einige 9/11-Attentäter offenbar bestens empfahl.

Auch in seinem 21. Roman verbindet der Brite John Le Carré, der selbst einst in den Diensten seiner Majestät stand, eine präzise recherchierte Wirklichkeit aufs Meisterliche mit erdichteten Ereignissen, setzt fiktive Figuren in reale Handlungsorte, baut aus wahren Begebenheiten und Begegnungen eine Geschichte, die so oder wenigstens doch so ähnlich durchaus hätte passieren können.

Das Schattengeschäft der Dienste ist nur sehr schwer zu fassen

Als einen in kollegialem Misstrauen eng verschlungenen Haufen schildert er dabei die britischen, amerikanischen und deutschen Geheimdienstler, man pfuscht sich herzlich ins Spiel im vermeintlich gemeinsamen Kampf gegen die feindlich gesinnte Welt da draußen. Undurchsichtigkeiten, Ungereimtheiten und Ungewissheiten prägen das schwer zu fassende Schattengeschäft dieser (Des-)Informationsbranche, die für ihre Erkenntnisgewinnung eine hübsch dialektische Definition findet: "Nach der Logik seines Metiers war Wissen das, was man vorgab, nicht zu wissen. Daher die Demonstration seines Nichtwissens", beschreibt John Le Carré einen seiner britischen Agenten.

So wie le Carré in seinem berühmtesten Roman "Der Spion, der aus der Kälte kam" das Deutschland des Kalten Krieges gesellschaftspsychologisch genau in Szene zu setzen vermochte oder in "Eine kleine Stadt in Deutschland" das verschlafene Bonn der 60er-Jahre zum Schauplatz des Spionage-Geschehens machte, so gelingt ihm nun erneut die Momentaufnahme einer politisch und rechtsstaatlich eigenwilligen Zeit. Es ist kein Zufall, das le Carré im Vorfeld lange Gespräche mit Murat Kurnaz führte, jenem "Bremer Taliban", der unschuldig viereinhalb Jahre in Guantánamo einsaß und dessen Geschichte er nun vor Augen hatte, als er die übrigens keineswegs eindeutige Figur des Issa schuf.

Krimi-Bibliothek: Das Hoch im Morden

"Aus Murat wurde Issa", bekräftigte le Carré nach Erscheinen des Romans im Abendblatt-Interview. Obschon er "die ursprüngliche Issa-Figur" bereits Ende der 80er-Jahre in Moskau getroffen habe, seien es doch diese Gespräche mit Murat gewesen, die ihm die Idee zurückbrachten.

Dass le Carré Murat für uneingeschränkt unschuldig hält, ändert allerdings rein gar nichts an der Ambivalenz, mit der er Issa beschreibt. Le Carré historisiert nicht, er inszeniert und konstruiert, die Fäden seiner "Marionetten" hält weniger ein ominöser Hintermann als vielmehr der Schriftsteller selbst in der Hand.

Der Roman profitiert zudem von der genauen Ortskenntnis und feinen Beobachtungsgabe seines Autors, der als junger Mann selbst einige Jahre in Hamburg verbrachte. Unter dem Dach des Konsulats war er damals für seinen Geheimdienst tätig und noch immer kehrt er - inzwischen in der Regel als Privatmann - gern an die Alster zurück.

Zu den Handlungsorten in John le Carrés "Marionetten" zählen, neben vielen anderen, der Hamburger Hauptbahnhofsvorplatz, der Stadtteil Altona oder das Foyer des gediegenen Hotels Atlantic, das so wunderbar detailgenau beschrieben ist, dass man es auch als Hamburger nach dem Lesen des Romans mit anderem Blick durchschreiten wird.