Am Sonntag erlebte die Oper “Bliss“ ihre deutsche Erstaufführung. Brett Deans schwer verdauliches Werk feiert in Hamburg einen Erfolg.

Hamburg. Der Weckruf kommt mit der Wucht eines Schicksalsschlags, aber anders wacht so einer ja nicht auf aus dem Schlafwandel, den er Leben nennt. 20 Jahre hat Harry Joy als leitender Werbefuzzi hinter sich, das muss gefeiert werden, finden seine lärmigen Freunde und seine rotte Familie. Auf einem engen Rasenviereck stehen sie beisammen, prosten einander zu und blecken selbstzufrieden die Zähne. Nur Harry selbst, der dickliche Provinzdandy im weißen Anzug, steht etwas unschlüssig daneben und wehrt linkisch die Elogen zum Firmenjubiläum ab. Dem weiteren Verlauf der Party entzieht er sich durch einen Herzinfarkt.

Sein Ende ist unser Anfang - und ist natürlich nicht sein Ende. Das Entree von Brett Deans Oper "Bliss", die am Sonntag in der Hamburgischen Staatsoper ihre deutsche Erstaufführung erlebte, folgt dem 1981 erschienenen Roman des Australiers Peter Carey, der seinen Helden gleich im ersten Satz ins temporäre Jenseits schickt. In der folgenden Stunde reiht Amanda Holden in ihrem Libretto zu Deans nicht eben eingängiger Musik derart viele Rückblenden aneinander, dass nur Zuschauer mit Elefantengedächtnis die Einzelheiten erfassen und behalten können.

In mehreren Kabinetten lässt der Regisseur Ramin Gray die Szenen aus Harry Joys Leben ablaufen. Die Bühne (Lizzie Clachan) wird zu einer Art Panoptikum mit einem Elefanten als leitmotivischer Bildidee. Das englische Idiom "there is an elephant in the room", das eine offensichtliche, aber von allen verschwiegene Wahrheit bezeichnet, nahmen Gray und Clachan beim Wort. Schon vor der Aufführung schaut ein einsames Elefantenauge in den Saal, bald strukturieren gewaltige Elefantenbeine als Fassade des untrauten Heims der Familie Joy die Bühne.

Das rückwärtige Elefantenloch erweist sich als Anus mundi, der im dritten Akt einen fantastischen, grausligen Müllberg als Endprodukt der Wegwerfgesellschaft ausgeschieden hat. Zugleich dürfen wir uns den fragmentierten Elefanten, dem als soziales Herdentier viel Gutes zugeschrieben wird, als Sinnbild für den Zerfall von Werten, Familie und Gesellschaft vorstellen.

Wo in anderen Opern Gefühl alles ist und Handlung nichts, drehen Dean und Holden die Verhältnisse um. Viele Figuren treten auf, sie tun bisweilen Dinge, die komisch oder schockierend sein sollen, doch sie lassen einen alle gefährlich kalt. Sehr englisch, das alles, skurril, und ziemlich anstrengend.

Dafür musikalisch äußerst geschichtskundig. Brett Dean erfindet im ersten Akt eine orchestrale Klanglandschaft, die den Hörer wie ein Bermudadreieck aus Richard Strauss, Alban Berg und Kurt Weill zu verschlingen droht. Leider gibt er seinem Harry Joy (Wolfgang Koch) wenig Schönes zu singen. Dafür bringen ein paar entrückte Falsetttöne in seiner Nahtod-Erzählung eine Ahnung außerweltlicher Erlösung vom Rattenrennen um Geld, Erfolg und Macht ins Spiel. Der gleißende Sopran von Hellen Kwon geht wie gewohnt in Seide. Als Harrys von Ehrgeiz befeuerte Gattin Betty macht diese Sängerin noch die Hysterie zu einem süffigen Erlebnis.

Auf die fast erschlagende Informationsdichte in Text und Musik folgt ein klanglich deutlich filigraner gehaltener zweiter Akt, der mit dem Auftritt des Callgirls mit spiritueller Mission Honey B. (ihr "Harry Krishna" war einer der wenigen Lacher des Abends) auch endlich eine Figur aufbietet, die nicht ganz so am Reißbrett der Ideen entstanden zu sein scheint. Brett Dean hat dieser bezaubernden Sirene, die in Ha Young Lee eine vibrierend laszive, stimmlich souveräne Verkörperung findet, eine hoch expressive Gesangspartie komponiert. Vibrafon, eine elegisch weinende E-Gitarre mit Wah-wah-Effekten und eine gestopfte Trompete à la Cool Jazz evozieren zudem eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, deren Dekor und Beleuchtung von David-Lynch-Filmen inspiriert scheinen.

Doch Honey B. gerät im dritten Akt fast schon wieder in Vergessenheit. Die schrecklich nette Familie steckt ihren Harry in eine Irrenanstalt, die das Regieteam - Achtung!, sehr ernste Zivilisationskritik! - auf besagtem Müllberg ansiedelt. Dort hat eine unnötigerweise Margaret Thatcher nachgebildete Frau, die sich von Harry Joy befriedigen lässt, das Singen und Sagen, derweil die Insassen - die Zirkusgesellschaft aus dem ersten Akt, damals fabelhaft kostümiert, nun arg ramponiert - wie sedierte Lemuren im Plastikabfall vor sich hin vegetieren und ein elektrisch verstärkter Geiger zuckende Musik von sich gibt. In einem "Rosenkavalier"-verdächtigen Damenterzett kommt es zum Showdown der drei Frauen, die um ihre Rechte an Harry Joy ringen.

Daheim in der Firma bestraft Betty als neue Chefin der Agentur sich und ihre Mitarbeiter für ihre fortgeschrittene Krebserkrankung mit einem Brandanschlag, den keiner überlebt. Und Harry, nach kurzem Rückfall ins Eheglück endlich lull und lall von seiner Königin Honey B., folgt ihr als Arbeitsbiene ins golden erleuchtete Vulva-Heim, das sie im Müllberg eingerichtet hat. Kein Paradies mehr, nirgends.

Dass Simone Young die von ihr selbst vor zehn Jahren in Auftrag gegebene Oper mit Verve dirigieren würde, war zu erwarten. Da sie sich in den Klangbädern der Spätromantik wie ein Fisch im Wasser bewegt, bringt sie Brett Deans komplexe und vielfarbig orchestrierte Partitur beeindruckend schwerelos zum Klingen. Erstmals auch hat sie gar mit einem Werk des 21. Jahrhunderts eine Spielzeit eröffnet. Der freundliche, von keinerlei Buhrufen getrübte Applaus war der verdiente Lohn für einen Achtungserfolg. Dass auf den Opernspielplänen bald Elefantenhochzeit anzuzeigen sein wird, weil das schwerblütige Werk auf heftige Gegenliebe des Publikums stößt, wäre allerdings eine gewaltige Überraschung.