Musik ist schön, macht aber bisweilen Arbeit . Und das ist auch gut so. Wer begreifen will, worum es geht, bekommt zunächst aber nichts geschenkt.

Hamburg. Mundgerecht soll sie sein, vorsortiert, weichgespült und freundlich. Handlich, für jedermann verständlich, am besten derart simpel beschrieben, dass sie kinderleicht wird. Das Kulturgut klassische Musik wird mehr und mehr zum Scheinriesen deklariert, der immer kleiner und handzahmer wird, je näher man ihm kommt. Das Ausmaß dieser sich selbst verblödenden Musikvereinfachung, die als Vermittlung verkauft wird, ist erschreckend und geradezu epidemisch.

Besonders arg wird es, wenn es so generell-gefühlig wird wie bei der chronisch ergriffenen Opernliebhaberin Elke Heidenreich, die zur Präsentation ihrer Anthologie "Ein Traum von Musik" kürzlich im Rahmen des Harbour-Front-Festivals Kalendersprüche aufsagte: "Kommt es ganz schlimm, hilft nur noch Bach." Oder "Man möchte immer die Musik küssen." Was fast wie eine eigenwillige Form sexueller Belästigung klingt, lässt ihre Fangemeinde womöglich hoffen, der bloße Wille zum Gerührtsein und tränenfeuchtes Kuscheln in den nächstbesten Konzertsaalsitz heile schon alle Wunden, die das Leben einem verpasst.

Es ist nur leider viel komplizierter. Wenn Beethoven von ersten Skizzen bis zur Fertigstellung seiner 9. Symphonie ein Jahrzehnt brauchte (von den acht Vorgänger-Symphonien und dem Rest des Werkkatalogs gar nicht zu reden), wie kann man dann glauben, das Stück in einer halben bis dreiviertel Erklär-Stunde zwischen Garderobenschlange und heruntergestürztem Einstimmungssekt erfassbar und verständlich zu machen? Wozu Buchregale vollgeschrieben wurden, darüber wird allzu gern in der üblichen Mischung aus Kratzen an der Oberflächenstruktur und biografischen Anekdötchen im Tiefflug hinweggeflattert. Schubert beispielsweise. Wiener, also per se depressiv, übergewichtig und hatte eher keinen Schlag bei den Frauen, daher so viel molliges Dur in seiner Musik. Klingt flott, bleibt Mumpitz.

Doch die Idee, vom Leben immer und unmittelbar aufs jeweilige Werk schließen zu können, scheint unausrottbar. Publikumspädagogisch überforderte Musikwissenschaftler simulieren damit bei ihren Konzerteinführungen von der Stange allzu gern Wissensvermittlung durch Frontalbelehrung, während sie in Wirklichkeit Lebenszeit vergeuden. Schlimmstenfalls stolpern Fachfremde mit höflichen Fachleuten über Allgemeinplätze, bis alle im Saal vom Klingelzeichen erlöst werden. Naturtalente wie Leonard Bernstein, dessen New Yorker One-Maestro-Shows vor laufenden TV-Kameras unerreicht niveauvoll und unterhaltsam waren, muss man mit der Lupe suchen. Das gilt fatalerweise auch für Hamburg, jener Stadt, die doch schon Musikmetropole mit Fleißstern sein und erst recht noch mehr werden will.

All das muss aber doch auch anders gehen? In seinem Buch "Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität" holt Holger Noltze deswegen zu einem provokanten Befreiungs-Rundumschlag aus, mit dem er sich gegen den gefährlichen Trend zur Vereinfachung wehrt. Der Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund entlarvt die beliebten Märchen der vielen gut gemeinten Education-Projekte als das, was sie oft sind - frömmelnde Notlügen. Noltzes entscheidende These ist ganz einfach: Es ist eben nicht so einfach. Musik ist anstrengend. Sie macht Mühe. Sie fordert viel Zeit. Wer wirklich ernsthaft begreifen will, worum es geht, bekommt zunächst nichts geschenkt. Aber später vielleicht. Oder auch nicht. Und falls nicht sofort, ist auch das kein Beinbruch, weil bereits die Anstrengung eine intellektuelle Belohnung ist. Ein Synapsengewitterchen, das das Bewusstsein an ungeahnten Stellen erhellt und den Spaß an der Unübersichtlichkeit des eigenen Daseins fördert.

Man dürfe sich bei den Vermittlungskonzepten nichts vormachen: "Fast alle laufen auf eine Vereinfachung der Inhalte hinaus, auf Ermäßigung der intellektuellen Eintrittspreise. Die Sirenengesänge der furchtbaren Vermittler suggerieren ungehinderten Zugang und schnelle Befriedigung durch leichte Verständlichkeit. Das eine große Tabu im musik-medialen Betrieb ist Komplexität. Das andere ist: Anstrengung. Einem Betrieb, der Eingängigkeit zur Schlüsselkategorie erfolgreicher Vermittlung erhoben hat, ist Überforderung das schlimmste Übel. Dies festzustellen heißt nicht, Überforderung zu fordern, es zielt darauf, Unterforderung zu vermeiden."

Noltze geht es um die Sehnsucht, "etwas zu beißen zu bekommen", erst recht trotz der dabei drohenden Gefahr, sich die Zähne am harten Lehrstoff auszubeißen. "Mich stört die einfache Vorstellung, allen alles mundgerecht präsentieren zu können. Ich hoffe auf Leute, die weiterwollen."

Bei seiner geschliffen formulierten Suada verschont der Kulturpublizist so gut wie niemanden, weder einfallslose Veranstalter oder elitäre Museumswächter noch die medialen Seichtgebiete bei Radio- und quotenfanatischen TV-Sendern und auch nicht die Kulturpolitik, in der oft nur "Rhetorik regiert". Die in Sonntagsreden von der "Unverzichtbarkeit" von Kultur dröhnt, um ihr am Montag still und leise das Geld zum Leben wegzustreichen.

Noltze wollte mit diesem Debattenbeitrag "eine kleine Stinkbombe in die allgemeine Gemütlichkeit werfen" und den Konsensfrieden stören. Was ihm aufs Lesenswerteste gelungen ist, obwohl auch er keine Patentlösungen hat.

Doch es gibt, allem Kulturpessimismus zum Trotz, auch noch Hoffnung. "Verblödung ist zwar ein sich selbst verstärkender, aber nicht prinzipiell unumkehrbarer Vorgang." Deswegen plädiert er dafür, Verstehen zu ermöglichen und einen Zugang zur richtigen Hürde zu schaffen. Dafür braucht es im Umgang mit klanggewordener Kunst Leidenschaft und Mut zum Spaß am Risiko: "Es geht nicht um Alltagsverschönerung und Freizeitvergnügen, es geht, so viel Pathos mag erlaubt sein, ums Ganze. Es geht auch darum, in einer Welt, die immer komplexer wird, einen furchtlosen Umgang mit Komplexität zu üben." Dann wäre die Verblödungsspirale doch noch gestoppt. Das Dilemma ist offenkundig groß. Neu ist es nicht. 1842 beklagte Mendelssohn in einem Brief: "Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig gesagt."

Buch: Holger Noltze: "Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität" (Edition Körber- Stiftung, 290 S., 18 Euro). Präsentation: heute, 19 Uhr, KörberForum, Kehrwieder 12. Eintritt frei