“Harold“ des anonymen Autors Einzlkind ist eine Überraschung

Er vereint so ziemlich alle Attribute, die ein Klassenstreber so mitbringen muss: Melvin kennt alle Beethoven-Sonaten, hat dreimal die Schulschach-Meisterschaft gewonnen, auf dem linken Augen hat er 4,5 Dioptrien plus, auf dem rechten 5,5. Vom Sportunterricht ist er befreit, und am liebsten beschäftigt er sich mit Philosophie, Mathematik und experimenteller Physik. Melvin ist elf und einer der beiden Protagonisten des Überraschungshits "Harold" von Einzlkind, einem anonymen Autor, der in "England oder Deutschland" lebt, "militanter Nichtraucher und schwer übergewichtig ist", wie der Klappentext verrät. Darüber ist das Foto eines schlaksigen, rothaarigen, Zigaretten rauchenden Mannes jüngeren Jahrgangs zu sehen. So weit das Mysterium um die Urheberschaft.

Der Text dann sprüht vor Sprachwitz, schwarzem Humor und skurrilsten Situationen vor trostloser Kulisse, die der Autor schlicht aneinanderreiht. Dabei folgt das Normale stets dem Absurden oder auch umgekehrt, auf jeden Fall immer wieder.

Harold ist der zweite Antiheld dieses Romans. Er ist 49, lebt in London, hat gerade seinen gehassten Job als Wurstverkäufer verloren und ist damit seiner tyrannischen Kollegin Carol aus der Käseabteilung entkommen. Ansonsten bringt er sich gerne um - ganz wie sein Namensvetter aus dem Film "Harold und Maude", den er allerdings nie gesehen hat. Mit gleicher Regelmäßigkeit trifft er verschrobene alte Damen zum Bridge, auch wenn Mrs. Merrythought sagt: "Harold ist kein Spieler. Harold hält Karten." Helden sehen anders aus. Doch Harold ist ganz zufrieden mit seinem Leben, seiner Wohnzimmertapete mit grün-braunem Rautenmuster und einem schlammbraunen mit rotem Brokat verzierten Sessel - beides Überbleibsel des Vormieters.

Doch dann bricht das Chaos in Harolds behaglichem Trott aus. Und das Chaos hat einen Namen: Melvin. Weil seine alleinerziehende Mutter für eine Woche auf eine Dienstreise muss, vertraut sie dem arbeitslosen Nachbarn ihren altklugen Sohn an. Und natürlich bleibt es nicht bei den zwei, drei Stunden am Tag, in denen sich Harold um den Jungen kümmern sollte. Melvin, der sich gerne als Savant bezeichnet, gedenkt die Zeit für die Suche nach dem verschollenen Vater zu nutzen.

Fünf Männer mit dem Namen Jeremiah Newsom hat er in Großbritannien und Irland ausgemacht und Harold zu seinem Fahrer erkoren. Also reisen die beiden quer durch das Königreich und treffen da erwartungsgemäß auf die skurrilsten Menschen. Das ist größtenteils sehr komisch. Dabei verdankt der Roman vor allem der lakonischen, nüchternen Sprache seinen Charme. Die Geschichte hat sich spätestens nach dem dritten Treffen mit dem vermeintlichen Vater erschöpft, doch das tut dann auch nix mehr zur Sache.

Einzlkind Harold Critica Diabolis 173 - Edition Tiamat, 224 Seiten, 16 Euro