Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel beginnt mit theatralischen und musikalischen Attacken - und kann auch quälen.

Hamburg. Wenn Kunst Menschen verbinden, mitreißen und begeistern soll, spricht sie im Idealfall Kopf und Herz gleichermaßen an. Besser als mit William Forsythes spektakulärer Installation "White Bouncy Castle" hätte dem künstlerischen Leiter Matthias von Hartz der Einstieg in sein diesjähriges Internationales Sommerfestival kaum gelingen können. Das kollektive Hüpfen der Gäste befreit im besten Fall von konventionellen Sehgewohnheiten und stimmt auf Überraschendes und Irritierendes ein. Deutliche Worte findet Matthias von Hartz zum Festivalstandort. "Aus internationaler Perspektive wäre es schön, wenn die Stimme der Kultur aus Deutschlands zweitgrößter Stadt öfter zu hören wäre. Es sollen ja noch ein paar Künstler hier sein", so von Hartz. "Eine Stimme im Senat zu haben, gehört dazu."

"Heißer als der Sommer", so der Werbeslogan des Festivals, verläuft der erste Abend allemal. Auch wenn auf dem Kampnagel-Festivalgelände der Themenschwerpunkt Wasser vor allem von oben zu spüren ist. Der blaue Glaskies, auf dem die Besucher stehen, konfrontiert sie bei jedem knirschenden Schritt mit der weltweit bedrohten Ressource. Bei aller politischer Aussage verleiht der Springbrunnen von Martina Stoian dem Gastronomieareal im Garten hinter der Kampnagelfabrik erneut etwas Idyllisches.

In der Kunst steht der Konflikt des Individuums zwischen Selbstbestimmung und Anpassungsdruck im Zentrum . Hofesh Shechters Tanz-Konzert "Political Mother" erweist sich als eine ebenso schlagkräftige wie plakative Parabel über Menschen manipulierende Machtsysteme. Deren Maschinerie überrollt die Tänzer wie das Publikum, angepeitscht von einer Hass verbreitenden "Führer-Figur" und einem "Bataillon" aus E-Gitarristen und Trommlern. Das Tänzer-Ensemble folgt auf Schritt und Tritt gehorsam den Rhythmen, lehnt sich flehend auf, duckt sich weg, wird vom Klang-Inferno der Musiker fortgerissen. Diese okkupieren mit ihrem Industrial Sound, der an die slowenische Band Laibach erinnert, stellenweise den gesamten Bühnenraum.

Jede Art von Führer- oder Herrschaft scheint Shechter suspekt zu sein: Der Vokalsalven brüllende Redner erscheint in militärischer und parlamentarischer Uniform, mutiert zum äffischen Alpha-Mann, Rockstar und sogar zum Alter Ego des seine Tänzer "ausbeutenden" Choreografen. Shechter schließt sich aus seiner getanzten Attacke selbst nicht aus.

Einen faszinierenden Gegenentwurf zur Hierarchie probiert die in Island ansässige Bedroom Community. Die eher wie ein Stamm organisierte Truppe komponierender Undergroundmusiker aus Kanada, Island und den USA bezieht ihre Kraft aus vermeintlich unvereinbaren stilistischen Unterschieden. Verstärkt um eine tolle Geigerin, einen Kontrabassisten und einen exzentrisch singenden Posaunisten, konzertierte die Schlafzimmergemeinschaft unter dem Namen Whale Watching Tour mit einem Repertoire zwischen Minimal, Noise und raffiniertem Folk. Jedes Arrangement klang anders, ausgeklügelt und ideenreich. Leider bombardierten die Bässe etwa von Ben Frosts Klub-Minimalismus derart erbarmungslos den Magen, dass der Abwanderungsstrom des Publikums aus der Halle frühzeitig einsetzt.

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Zum Kunsterleben gehören eben auch Momente der kalkulierten Überforderung, wie sie auch die Besucher des Nature Theater of Oklahoma zu spüren bekommen. Die derzeitigen Lieblinge der Off-Theaterszene aus New York verlegen sich mit "Life And Times - Episode One" aufs Hardcore Musical Entertainment. In dreieinhalb Stunden verhandelt der Abend von Pavol Liska und Kelly Copper die ersten sechs Lebensjahre des amerikanischen Land-Eis Kristin Worrall, fußend auf einem realen 16-stündigen Telefonat. Detailgetreu und stimmathletisch hangeln sich die Performerinnen Anne Gridley, Julia LaMendola und Alison Weisgall - flankiert von drei bärtigen Performern - durch erste Kindergartenfreundschaften, Schulerlebnisse und Elternfrust.

Schräg aufgemacht mit grauer Arbeiterkluft und Bäuerinnenkopftuch führen sie eine gewollt ungeübte Choreografie vor, die jedes Massenturnen im Ostblock bereichert hätte. Drei Musiker orgeln dazu tapfer die immer gleiche Country-Melodie. Die Akteure führen den Musical-Glamour durch die Beschränkung auf den privaten Erinnerungsfaden ad absurdum, treiben zugleich den Widerspruch zwischen Konformismus und übersteigertem Individualismus auf die Spitze.

Die Idee ist nicht ohne Reiz, aber auch schnell verstanden. Nach dem Exodus der Zuschauer zur Pause bleibt gut ein Drittel Hardcore-Oklahoma-Fans übrig, in deren Schlussapplaus sich Dankbarkeit mischt, dass sie sich nicht das gesamte Telefonat anhören müssen. So ist das mit der Kunst. Sie erhebt - aber manchmal quält sie auch.