Warum Dockville und das Sommerfestival Sinn stiften

Wo fangen wir an? Bei den Höhlenmalern, die auch Steinzeittrommeln an ihre untapezierten Wände pinselten? Bei Adolph Menzel, der den Alten Fritzen flötend bei Kerzenschein in Schloss Sanssouci verewigte? Bei Otto Dix, der die Jazzmusiker im Berlin der 20er-Jahre grell ins Zwielicht ihrer Existenz rückte? Oder bei Coleman Hawkins, der eine der ersten Saxofonsoloaufnahmen "Picasso" nannte? Vielleicht erst bei den Parallelen zwischen John Coltrane und Jackson Pollock? Musik und bildende Kunst haben sich oft berührt, und tausendmal ist nix passiert. Erst in der Popkultur schlagen beide Kunstformen immer wieder aneinander Funken.

Fangen wir pophistorisch also bei Adam und Eva an, bei John und Paul. Hätte es die Beatles ohne John Lennons Studienzeit auf der Liverpooler Kunsthochschule gegeben? Und ein paar Jährchen später: Was wären Genesis oder Roxy Music, was Velvet Underground oder Palais Schaumburg ohne die Prägung ihrer wichtigsten Leute durch die bildende Kunst? Und, letzte rhetorische Frage in diesem Text: Wären die Beatles 1969 auseinander gegangen ohne den nach Meinung von Abermillionen Fans aufs Grässlichste zersetzenden Einfluss von Yoko Ono, einer Performancekünstlerin?

In die Geschichte der Popmusik hat die bildende Kunst einen Subtext-Faden hineingewebt, vielleicht nicht besonders dick und texturprägend, dafür aber von großer Wirkungsmacht. Pop ist der Ponton der bildenden Kunst; seine Höhen und Tiefen richten sich nach ihrer Tide.

Ohne den Einfluss des Visuellen wäre die Entwicklung der Popmusik um einiges träger verlaufen. Das Auge ist der Jäger, das Ohr der Sammler. Das Auge sucht das Neue, das Ohr neigt zur Bewahrung des Bekannten. Weil das Hüten per se keine schöpferische Tätigkeit ist und der Mensch ja doch immer vorwärts strebt, suchen die interessanteren Pop-Künstler die Nähe der bildenden Kunst. Vision kommt von Sehen.

Das wäre jedenfalls ein Denkansatz, der verstehen hilft, was das Festival Dockville so einzigartig macht. Und weshalb das zwischen Kunst und Theater schillernde Sommerfestival auf Kampnagel auf Musik der klügeren Köpfe nicht verzichten mag. Kunstmessen sind arty. Pop-Festivals sind fun. Beides zusammen ist cool.

Schon die Mutter aller Festivals, Woodstock 1969, nannte sich "Music And Art Fair". Doch erst in den 70ern kam die Zeit des Kunsthochschul-Pop. Immer ein wenig verblasen, einzelgängerisch, wegweisend. Erneuernde Subversionskraft erwuchs der Musik weniger aus der Oberfläche der Bilder als aus der ästhetischen Reflexionstiefe der Kunst. Doch auch die Bilder blieben wichtig, obwohl die künstlerische Gestaltung von Schallplattenhüllen mit der CD ihren Reiz verlor. Bei dem Format konnte die Aufmerksamkeitssteigerung für Musik nicht mehr über vereinzelte visuelle Künstlergeniestreiche wie das von Andy Warhol erfundene "Sticky Fingers"-Plattencover der Rolling Stones mit dem eingenähten Reißverschluss oder die Bananenhülle der Velvet Underground funktionieren.

Videos wurden in den 80ern zum Instrument von Marketing und Selbstdarstellung, MTV sei Dank. Das Medium bot Anreiz für vielfältige Verschränkungen zwischen bildender Kunst und Popmusik. Und es half, die performative Qualität mancher Bands ikonografisch zu machen. Gruppen wie die Talking Heads, die Residents, Kraftwerk oder heute die Gorillaz stehen (auch) in der Tradition der Performance-Kunst - und beflügeln sie.

Und: Beim Dockville existiert die Kunst nur auf Zeit. Ihre intendierte Flüchtigkeit unterläuft die Ewigkeitsidee des Werks, die Scheindauer der Materie - und nähert sich so der Musik an, der immateriellsten aller Künste, die im Moment ihres Erklingens schon verdammt ist zum Verschwinden.