Anwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach stellt seinen zweiten Erzählband “Schuld“ vor. Es geht um Täter und Opfer, Verrat und Moral.

Es ist die Frage nach dem Warum, die uns am meisten quält. Warum verwandelt sich der aufmerksame Ehemann in einen Sadisten, der seine Frau vergewaltigt und ihr mehrere Rippen bricht? Weshalb schaut die Nachbarin weg, als das kleine Mädchen vor ihren Augen in die Wohnung des fremden Mannes gezerrt wird? Oder aktuell: Wieso hat vor dem Loveparade-Unglück niemand das fehlende Sicherheitskonzept angemahnt - wenn doch hinterher alle gewusst haben wollen, dass sich eine Katastrophe anbahnt?

Die menschliche Natur verlangt nach einem Schuldigen, wenn ein Verbrechen passiert, wenn die Dinge mit verheerendem Ausmaß aus dem Ruder laufen. Strafrechtler wissen, dass auf die Frage nach dem Warum selten eine befriedigende Antwort gefunden wird. Und dass der Schuldige nicht immer deckungsgleich ist mit demjenigen, der vor Gericht die Verantwortung für eine Straftat übernehmen muss.

Niemand schreibt eindringlicher über Fälle wie diese als der Berliner Strafverteidiger und Anwalt Ferdinand von Schirach. Sein Debütwerk "Verbrechen" stand 45 Wochen auf den Bestsellerlisten, die Startauflage seines neuen Erzählbandes beträgt 100 000. "Schuld" versammelt 15 schmucklose Geschichten, die auf Erlebnissen basieren, die dem Juristen in seiner Kanzlei widerfahren sind. Namen, Orte, Details und Milieus sind verfremdet, um die Persönlichkeitsrechte zu wahren.

Es geht um Normalbürger und deren Straftaten, um die Abgründe der menschlichen Natur und den Wahnsinn des Alltags in unserer unmittelbaren Umgebung. Die Protagonisten sind Firmenchefs, Louis-Vuitton-Handtaschenträgerinnen und arme Schweine, die zu Leichenzerstücklern, Drogenhändlern, Kleptomanen werden. Psychologisierungen interessieren den Schriftsteller wenig, dem Innenleben der Figuren widmet er nur wenige Zeilen. In seinen juristischen Fallbeispielen führt von Schirach den Leser an jenen Punkt, an dem die Dinge begonnen haben schiefzulaufen. Oft setzen die Geschichten ein, "als die Welt noch in Ordnung" war - und die Wendung, die schließlich folgt, liest sich umso unerwarteter, erschreckender.

In Ferdinand von Schirach hat der Literaturbetrieb ein Talent gefunden, dass sich auf unattraktives Gebiet vorwagt: Aktenzeichen, Gerichtssäle, Richterroben - das klingt staubig, nach Paragrafenreiterei und gewiss nicht nach dem Überraschungserfolg, als der sich sein Debütband entpuppen sollte. Bei Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" und Charlotte Roches "Feuchtgebiete" lagen die Verkaufsargumente auf der Hand: junge Frauen, Sex und Fäkalsprache. Wie aber erklärt sich die Popularität des Anwalts, der für das Nachrichtenmagazin "Spiegel" eine monatliche Kolumne schreibt, den die "Bild"-Zeitung rechtzeitig zum Erscheinen des neuen Erzählbandes in Serie vorab druckt?

Wie die meisten großen Romane (überhaupt: Kunstwerke) handelt auch "Schuld" von den ewigen Fragen: Was ist Liebe, was ist Verrat, welchen Wert hat Moral und wie viel hat sie mit Menschlichkeit zu tun? Eifersucht, Gier und Leidenschaft sind es, die die Menschen erst zu Verbrechen und später in von Schirachs Kanzlei treiben.

Da ist der Mann, der beim Morgenkaffee vor den Augen seiner Ehefrau im Pyjama von der Polizei abgeführt wird, zwei Schülerinnen haben ihn wegen Missbrauchs angezeigt. Ein Missbrauch, der nur in ihrer Fantasie stattgefunden hat, aber dennoch sein Leben zerstört. Oder die Kellnerin, die auf einem Volksfest von einer Horde betrunkener Musiker vergewaltigt und schwer verletzt zurückgelassen wird, während die Männer heimgehen zu ihren Frauen und Kindern. Sie werden nie verurteilt, die Beweislage ist unzureichend. "Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten und dass das keine Rolle spielte. [...] Wir waren erwachsen geworden", schreibt nach dieser Gerichtsverhandlung der Ich-Erzähler, den der Leser geneigt ist, als Ferdinand von Schirach zu identifizieren.

Wenn es um Wahrheitsfindung geht, sind die Dinge selten eindeutig, einfach schon gar nicht. Wenn zwei Versionen einer Geschichte existieren, geht Beweislage häufig vor Schuld. Und tatsächliches Vergehen vor moralische Schuld und Verantwortung. Es ist diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die aus den Fällen Roman Polanski, Jörg Kachelmann oder eben Duisburg Medienspektakel macht und aus von Schirachs Geschichten ein Stück Zeitgeschichte, das vielleicht mehr über unsere Gesellschaft verrät als so manche Reportage und angeblich der Wirklichkeit abgelauschte Dokumentation.

Ferdinand von Schirach, ein Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach, denkt nicht darüber nach, ob jemand schuldig ist oder nicht; als Anwalt geht es ihm allein um die Frage: Reichen die Beweise aus, um jemanden zu verurteilen? Der Titel des Buches ist aus diesem Grund einerseits irreführend, auf der anderen Seite aber natürlich genau richtig gewählt. Denn es ist der Leser, der lange über die Schuldfrage nachdenkt, nachdem er die unsentimentalen, manchmal beinahe unterkühlten Geschichten gelesen hat. Über Täter und Opfer, die so oft beides zugleich sind, und über Würde und den Verlust selbiger. So schnörkellos von Schirach schreibt, so unaufgeregt er Fakten aneinanderreiht, findet er doch zu einem literarischen Tonfall, der lange nachklingt.

Der 1964 in München geborene Autor weiß Erzählungen geschickt aufzubauen und den Leser bei der Stange zu halten. Er ködert ihn mit den Zufällen des Lebens, die keiner Logik folgen, sowie mit Sätzen wie diesen: "Die Dinge hätten gutgehen können. Aber dann war die Sache in der Hotelsauna passiert und hatte alles verändert." Schon ist man mittendrin in den Schicksalen der jeweiligen Figuren. Geschrieben hat er seine neuen Erzählungen im touristischen Venedig-Trubel, denn "so knappe Geschichten kann man am besten in einer überladenen Stadt schreiben".

Sein Buch ist ein literarisches Plädoyer für die Würde des Menschen. Für die brüchige Existenz von Schuld und Unschuld, die oft nur durch eine hauchdünne Papierwand voneinander getrennt sind. Wer sich schuldig macht, hat stets zu einem bestimmten Zeitpunkt die falsche Entscheidung getroffen. Von diesen Entscheidungen im Leben erzählt Ferdinand von Schirach.

Ferdinand von Schirach: "Schuld". Piper Verlag, 208 Seiten, 17,95 Euro