Eine Ausstellung im Museum Kunst der Westküste ist der Wolle gewordene Beweis für die Schönheit der Natur. 700 Menschen haben mitgewirkt.

Alkersum. "Hyperbolisches Häkeln", das klingt wie die K.-o.-Vokabel aus einer 500 000-Euro-Frage, mit der Günther Jauch selbst die schlimmsten Schlaumeier reinlegen kann, weil niemand glauben würde, dass es so etwas gibt. Gibt es aber: als faszinierende, liebenswürdig versponnene Schnittmenge aus hochtouriger Mathematik und beschaulichem Kunsthandwerk.

Vor 15 Jahren hatte die Mathematikerin Daina Taimina entdeckt, dass Häkeln sich bestens dafür eignet, hyperbolische Geometrie buchstäblich anschaulich und damit begreifbarer zu machen. Um unbedarftere Hirne mit hyperbolischer Geometrie ins Trudeln zu bringen, genügt schon unvorsichtiges Hineinspazieren in den nicht euklidischen Raum; dort benehmen sich Ebenen wohl sonderbarer, als man es von ihnen gewohnt ist, sagt man. Dort krümmen sich Räume in sich selbst und dehnen sich weiter dabei aus, sagt man. Wer partout möchte, kann auch noch in der Struktur von Ananas-Schalen Fibonacci-Zahlenreihen entdecken und sich darauf einen Reim machen, heißt es. Der Wolle gewordene Beleg für solche Thesen lässt sich nun in einem kleinen, feinen Museum auf der Nordsee-Insel Föhr besichtigen.

Dort, im Museum Kunst der Westküste, hat sich ein raumfüllendes Korallenriff materialisiert, virtuos hyperbolisch gehäkelt, wie wild wuchernd, nach dem Spektralfarbenverlauf durchsortiert. Die Natur benötigt für die Arbeit an solchen Groß-Installationen Jahrtausende (Menschen schaffen es, sie in wenigen Jahrzehnten zu zerstören), aber hier waren monatelang rund 700 Mitwirkende am Werk. Das "Föhr Reef" - über 30 Quadratmeter, mehr als 400 Kilogramm Wolle, etwa 5000 Arbeitsstunden - ist das erste seiner Art in Deutschland. Es ist Teil des globalen Wollnetzwerks "The Hyperbolic Crochet Coral Reef", in wöchentlichen Häkelsitzungen von Föhrer Landfrauen und in süddänischen Strick-Cafés erstellt, um die zufällige Schönheit der Natur und der hochkomplexen Zahlenkonstrukte in ihrem Bauplan für Korallen vor Augen zu führen. Eine mahnende Erinnerung auch an die Verwundbarkeit ökologischer Systeme.

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Von Korallen und Landfrauen: ein gehäkeltes Riff auf Föhr

Urheberinnen der maritimen Kunstlandschaft auf dem Trockenen, an der sich Mithäkler aus ganz Deutschland beteiligten, waren die Zwillingsschwestern Margaret und Christine Wertheim, die eine Physikerin, die andere Künstlerin. Modell für die Idee stand das Great Barrier Reef vor der Küste ihrer Heimat Australien. 2003 gründeten die Wertheims in ihrem Wohnzimmer in Los Angeles ein Institute for Figuring, das seitdem mit Museen und Häkel-Fans in aller Welt kooperiert, um die Poesie von Zahlen zu verhäkeln. Sie liefern Häkelanleitungen für die kollektive Kunstproduktion und sorgen für Helfer, wenn es an die Inszenierung der Hirn-, Nelken- und Säulenkorallen aus Mohair, Angora und anderen Wollsorten geht. Auf Föhr hat dieser Abschluss der Schöpfungsphase drei Wochen gedauert, penibel dokumentiert, damit das Häkel-Riff im Oktober bei seiner nächsten Museums-Station im dänischen Tondern originalgetreu auferstehen kann.

Nachdem die erste Verblüffung über den Anblick dieses kunterbunten Woll-Walls abgeklungen ist, meldet sich kindliche Freude im Gemüt, beglückt vom Ausmaß der sympathischen, leicht subversiven Verschrobenheit, die hier dem Anspruch an museumswürdige Kunst ein Bein stellt. Die gute alte Handarbeit, früher ohne Wenn und Aber als trutschig verschrien, ist längst hip geworden. Webdesignerinnen hinterlassen niedliche Strickprodukte an Denkmälern in Berlin und Hamburg, als ob man sich mit einem verschenkten Mützchen oder Pulswärmer für losgetretene Gentrifizierungsprozesse in Szenevierteln entschuldigen könnte. Kleingärtnern ist keine kleinbürgerliche Kulturverweigerung mehr, sondern geradezu Pflicht für Designer-Eltern, um bei einem laktosefreien Latte ironiefrei und beseelt über Natur-Romantik 2.0 mitreden zu können.

Nun also offenbar auch: Häkeln. Allerdings wohl nirgendwo so ästhetisch und berauschend schön umgesetzt wie in Alkersum. An Detailverliebtheit wurde beim Föhr Reef nicht gespart, der sich kräuselnde, wuchernde Farben- und Formenreichtum ist nicht weniger als bezaubernd. Jeden Moment, denkt man sich, könnte es ein Ende haben mit der fast sakralen Ruhe und das Ganze entpuppt sich doch als "Muppet Show"-Kulisse, in der ein Chor aus psychedelisch gefärbten Topflappen den Beatles-Klassiker "Octopus's Garden" krakeelt. Aber die Korallen stehen still und schweigen, würdevoll, wie es sich für Korallen gehört.

Hier und da haben die Kunst-Häkler Grotten ins Ensemble eingefügt, in denen kleinere Woll-Geschöpfe blühen. Besonders Mutige seien auch mal von den Häkel-Anweisungen abgewichen, berichtet Museumsdirektor Thorsten Sadowsky; sie seien neugierig gewesen, ob sie dem Zahlen-Schicksal durch die eine oder andere Masche mehr nicht neue, noch etwas hyperbolischere Resultate abluchsen könnten.

Nervenstarke Mathematiker haben beim Umgang mit hyperbolischen Räumen überfordert kapituliert. Die Natur hingegen hat nicht groß nachgedacht, sie hat einfach losgelegt und formvollendet hyperbolische Strukturen entworfen. Korallen beispielsweise. Einfach so und immer wieder anders. Vielleicht ist all das nur ein Rechenexempel, um zahlenbesessenen Nerds ein Lächeln unter die Hornbrillen zu zaubern. Vielleicht aber auch ein kleiner, raffiniert chiffrierter Gottesbeweis.

"The Hyperbolic Crochet Coral Reef. The Föhr Reef" bis 16.9. Museum Kunst der Westküste, Alkersum/Föhr; www.mkdw.de , Weitere Informationen: www.crochetcoralreef.org , www.theriff.org

Ein Video mit Eindrücken aus dem Museum finden Sie unter www.abendblatt.de/riff