Joseph Mitchells großartiger Reportagenband versammelt historische New Yorker Hafengeschichten zwischen Hudson und East River.

Wer eine Stadt durchdringen will, mit all seinen Fasern, wer sie riechen, schmecken, fühlen und spüren will: Der muss rausgehen an die frische Luft. Und wenn dieser Jemand dann wieder reingeht, dann darf es an dem Ort seiner Wahl nicht nach Rosenblüten duften. Zumindest wenn die Stadt Hamburg heißt oder New York und ihre DNS an der Hafenkante andockt. Man stelle sich, mit der Nase im Wind, mal auf den St.-Pauli-Fischmarkt; gerne an einem trüben Mittwochvormittag, wo hier garantiert nix los ist. Auf der Elbe fährt eine Barkasse vorbei, und durch das Quartier wabert ein unbestimmter Geruch nach Fisch, bei dem man sich das Salz in der Luft mehr oder weniger einbildet. Das hier ist immer noch eine Hafenstadt in reiner Form: Wie mag es vor 60, 70 Jahren gewesen sein, als Fischkutter in großer Zahl im Hafen anlegten und der Fischmarkt sich nicht auf den touristischen Sonntag beschränkte?

Der Reporter Joseph Mitchell war genau in diesem Zeitraum in den Hafenrevieren unterwegs. Allerdings nicht in der Hafenstadt Hamburg, sondern in der Hafenstadt New York, und deren maritimer Mythos ist, bei allen erlaubten lokalpatriotischen Anwandlungen, sogar noch größer als derjenige Hamburgs. Mitchell (1908-1996) schrieb für den "New Yorker", seine voluminösen Reportagen erschienen in den 40er- und 50er-Jahren und machten den in North Carolina geborenen Mann zur lebenden journalistischen Legende.

Von Goethe bis Brigitte Kronauer

Hierzulande wird der teilnehmende Beobachter - ein solcher ist ein guter Reporter immer - und aufmerksame Flaneur Mitchell erst wahrgenommen, seit sich der Schweizer Diaphanes-Verlag seiner angenommen hat. Der Reportagenband "Zwischen den Flüssen. New Yorker Hafengeschichten" ist nach dem im vergangenen Jahr erschienenen "McSorley's Wonderful Saloon. New Yorker Geschichten" die zweite Lieferung aus Zürich, die nicht nur New-York-Fans große Freude machen dürfte.

Mitchells Streifzüge durch das Gebiet zwischen Hudson und East River, Staten Island und Fährhafen fördern Geschichten und Menschen zutage, die nicht viel mit Seemannsgarn zu tun haben, sondern mit dem sehr realistischen Leben in einer großen Stadt mit Anbindung an die große weite Welt.

In warmes Licht getaucht

Mitchell trifft Fischer, Restaurantbesitzer und die Leute, die für die Hafenbehörden arbeiten, etwa als "Shellfish Protector", der für die Einhaltung der Fisch-, Krustentier- und Schalentier-Schutzvorschriften zuständig ist. Mitchell unterhält sich mit den Flussmännern (den "Rivermen"), und seine Ausflüge an den Rand der Stadt bezeugen zwei Dinge: Die Typen und Menschenschläge, die einem Milieu angehören und die mit Fragen an das Leben die Sensibilität des "kleinen Mannes" an den Tag legen, verändern sich nicht. Sonst aber alles: Die Reportagen sind Anker im Fluss der Zeit, die das Alte für die Nachwelt festhalten wollen.

Mit bemerkenswerter Akkuratesse beschreibt Mitchell nicht nur das Aussehen der Flussmenschen, wenn sie ihm in den Fischrestaurants oder auf den Maifischbargen begegnen (sie sind immer kräftig gebaut), sondern auch die Geschichte des Fischfangs und seiner Methoden, die sich im Verlaufe der Jahre veränderten. An der Mündung des Hudson Rivers wurden lange Zeit Austern in großen Mengen geerntet, aber zu der Zeit, in der Mitchell den Hafengeschmack New Yorks in sich aufnimmt, verabschiedet sich die Fischereiwirtschaft Stück für Stück.

Mitchells sachlicher Ton lässt freilich keinerlei Nostalgie erkennen, nur immer wieder das Interesse an der Schnelllebigkeit, die selbst in Amerika, dem Kontinent (angeblich) ohne Geschichte, für einen Wunsch nach historischer Erdung sorgt.

Hamburger Bestseller

In dem Restaurant Sloppy Louie's, gelegen nahe der Brooklyn Bridge, gibt es jeden Tag eine große Auswahl von Fischgerichten. Der Betreiber, Louie Morino, stammt aus einem Kaff an der italienischen Riviera; auf der Fassade des Gebäudes befinden sich Madonnen. Die Geschichte des mehrstöckigen Hauses birgt ein Geheimnis: Über dem Lokal dämmern die Räume eines ehemaligen Hotels vor sich hin. Der handbetriebene Aufzug ist wenig vertrauenerweckend. Trotzdem wagen Louie und Mitchell den Aufstieg. Zwischen Spiegeln, in denen seit Jahren kein Mensch zu sehen war, und eisernen Bettgestellen findet sich ein Plakat, darauf steht: "Der Sünde Lohn ist der Tod; Gottes Geschenk aber ist das ewige Leben durch Jesus Christus unseren Herrn."

"Ich habe praktisch nichts erfahren, was ich nicht schon wusste", sagt der Katholik enttäuscht. Ein anderes Wissen bedeutet Louie mehr: Restaurant und Hotel gehören zu einem Haus, das der für New York wichtigen holländischen Immigrantenfamilie Schermerhorn gehört. Der Gedanke gefällt Louie, er fühlt sich mit der Vergangenheit verbunden. Zur Vergangenheit passen auch die Schiffswracks, die auf dem Grund der Gewässer liegen.

Teilweise immer noch. Wie in der Elbe: Flüsse gleichen sich. Und die Menschen, die es an sie zieht. Mitchells Hudson River darf wahlweise durch Elbe, Weser oder Rhein ersetzt werden: "Mich zieht es oft zum Hudson River, und dort, wo er durch die Stadt fließt, habe ich im Laufe der Jahre schon viel Zeit an seinen Ufern verbracht."