Ein Lektüreprotokoll von Ina Hartwig, der Hamburger Kritikerin

Selbst eine Vielleserin wie Ina Hartwig weiß, dass sie nie genug lesen wird: Wahrscheinlich genau deswegen, weil sie in ihrer schon etliche Jahre währenden Laufbahn als Literaturkritikerin eine kaum mehr zählbare Menge von gedruckten Seiten verschlungen hat. Auf jedes gelesene Buch kommt mindestens eines, das man anstatt dessen ebenso gut hätte lesen können, weil es uns die Welt genauso schlüssig deutet, weil es eine ebenso gute Geschichte erzählt und weil es ästhetisch nicht weniger gelungen ist.

Leidenschaftliche Leser sind Getriebene - und Literaturkritiker sind, schreibt Ina Hartwig in ihrem Kompendium "Das Geheimfach ist geöffnet", "lesende Zwangstäter". Sie sind getrieben von der Gier nach Buchstaben, und sie gehören zu der seltsamen Spezies, die sich darüber freut, wenn eine Zugfahrt länger dauert als terminiert: noch mehr Zeit zum Lesen. Hartwig, 1963 in Hamburg geboren, zählt zu den renommiertesten Kritikern hierzulande. Sie ist Expertin der französischsprachigen Literatur und Proust-Jüngerin: Als profunde Kennerin des Großwerks "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" besitzt sie die Langmut, die eine professionelle Leserin immer braucht, neben gut trainiertem Sitzfleisch.

Hartwigs gesammelte Literaturstücke, die zumeist in der "Frankfurter Rundschau" erschienen, stellen einen geistreichen, aber keinesfalls repräsentativen Querschnitt der Gegenwartsliteratur dar. Literaturkritik ist mehr als nur eine Scheidung in Gut und Schlecht. Die Essays folgen ihrem persönlichen Geschmack, aber auch zeitgeschichtlichen Interesse: Ihre Texte behandeln, unter anderem, Hélène Berr, Ingeborg Bachmann ("Die Libido brennt"), Ulrich Peltzer und Kathrin Röggla, Klaus Wagenbach, Imre Kertész und Brigitte Kronauer. Hartwig, die Literaturwissenschaftlerin, verknüpft kenntnisreich Leben und Werk der zumeist (kritisch) bewunderten Autoren.

"Das Geheimfach ist offen" ist als ausführliches Lektüreprotokoll ein überaus lesenswerter Arbeitsnachweis der Bucharbeiterin Ina Hartwig; ihr Buch sei all jenen empfohlen, die das literarische Gebiet Frankreichs und Deutschlands durchmessen wollen. Hartwigs philologische Miniaturen beziehen sich bis auf wenige Ausnahmen (Goethe, Celine, Benn und natürlich Proust) auf die jüngere und jüngste Vergangenheit. Anregend sind sie alle: Man müsste noch viel mehr lesen.