Der Hafen von Mukran auf Rügen war Erich Honeckers Prestige-Bauprojekt für die Kooperation der DDR mit dem großen Bruder, der Sowjetunion.

Ganz oben unterm Dach des Wartehäuschens auf dem Güterbahnhof von Mukran steht der Gruß eines Sowjetsoldaten aus der sibirischen Altai-Region. "Hallo Landsleute!", hat er auf Russisch in die gekalkte Wand geritzt. Ein paar Zentimeter weiter hat sich jemand namens Wasjok aus der Stadt Ufa mit "DMB 92" verewigt. Für Wasjok war es mit Sicherheit ein Tag der Freude. Die Abkürzung steht für "Demobilisazija", das Ende des zweijährigen Wehrdienstes in der Sowjetarmee.

Züge halten an der kleinen Haltestelle nicht mehr, in der Soldaten aus der gesamten Sowjetunion ihre kurzen Botschaften hinterließen. An der Wand hängt noch ein Fahrplan der DDR-Reichsbahn, die Spalten mit Abfahrtzeiten und Zielbahnhöfen sind leer. Draußen erobert die Natur den Bahnsteig. Gräser brechen durch die Risse im Beton. Das schwarz-weiße Schild "Mukran-Mitte" steht noch, aber Züge fahren hier nicht mehr.

Die Zeit ist auf dem Güterbahnhof und zwischen Sassnitz und Binz scheinbar stehen geblieben. Mehr als 2000 Menschen haben früher hier und auf dem angrenzenden Fährhafen gearbeitet. Heute kommen an Wochenenden manchmal Eisenbahnfreunde, die mit der Digitalkamera Reichsbahn-Nostalgie festhalten. Sie treffen nur selten Rangierer und Arbeiter zwischen den Stellwerken, Betonstraßen und Gleisen.

Mukran war das größte Verkehrsprojekt der DDR, hat mehr als zwei Milliarden Ostmark gekostet und hatte Gleise mit einer Gesamtlänge von 120 Kilometern. Güterbahnhof und Hafen verbanden Rügen mit der UdSSR. Fünf 190 Meter lange Eisenbahnfähren mit Breitspurgleisen für 103 Güterwaggons pendelten über die Ostsee nach Klaipeda, dem einstigen deutschen Memel im heutigen Litauen. Es waren die größten Schiffe, die die DDR je gebaut hatte, und sie garantierten eine leistungsfähige Verbindung für den Güterverkehr zwischen beiden Ländern. 5,3 Millionen Tonnen pro Jahr waren angepeilt.

+++ Mukran heute +++

Offiziell sollte die Fährverbindung den Handel zwischen den sozialistischen Bruderländern auf Trab bringen und vereinfachen. Aber der Pendelverkehr zwischen Rügen und dem Baltikum war seit der Eröffnung im Oktober 1986 auch fester Bestandteil militärischer Planungen für den Kriegsfall zwischen den Staaten des Warschauer Pakts und der Nato. Die Schiffe garantierten einen schnellen Transport von Waffen und Truppen in Richtung Westen ohne den Transit über Polen. Dieses Bruderland galt im sozialistischen Lager spätestens seit dem machtvollen Auftreten der Gewerkschaft Solidarnosc mit ihrem Anführer Lech Walesa Anfang der 80er-Jahre als unzuverlässiger und kaum berechenbarer Partner.

Erst nach der Wende erfuhren die DDR-Bürger, dass beim Bau der fünf Fähren auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar unter Deck geheime Räume für Truppentransporte mit Duschen und Toiletten eingerichtet worden waren. Dort war Platz für 300 Soldaten. Gerade mal 20 Stunden waren sie zwischen Klaipeda und Mukran auf der Ostsee unterwegs. Nur vier Stunden dauerten Ent- und Beladung in den Häfen. Schon kurz vor der Eröffnung der Linie bezeichnete sie eine deutsche Tageszeitung im Juli 1986 als "Fährlinie für den Nachschub der Roten Armee".

Groß war auch die Aufregung, als die Bundesrepublik Verhandlungen mit der UdSSR über eine eigene Eisenbahnfährverbindung für den Güterverkehr aufnahm. Auf deutscher Seite waren die Häfen Lübeck und Kiel im Gespräch, die Russen bevorzugten Flensburg oder Neustadt (Holstein). Bundeskanzler Helmut Kohl gab 1985 dem Projekt seinen Segen, doch hinter den Kulissen machten besonders die Amerikaner Druck. "Die hatten Angst, dass die Schiffe mit Panzern in Lübeck anlegen, die gleich nach Hamburg durchfahren", spottete ein Beamter des Kieler Verkehrsministeriums. Im Juni 1986, fünf Monate vor der Eröffnung der Linie Mukran-Klaipeda, kam das Nein aus Moskau zum Geschäft mit der Bundesrepublik.

Mukran war ein beschauliches Fischerdörfchen, als 1982 die ersten Bagger anrollten. 3500 Menschen haben den Fährhafen aufgebaut. Einer von ihnen, Stephan Schack, war 19 Jahre alt, als er zum ersten Mal die riesige Baustelle an der Ostseeküste sah. "Eine unglaubliche Schlammwüste", erinnert er sich. Schack war Bausoldat. So hießen in der DDR die jungen Männer, die den Wehrdienst mit der Waffe in der Nationalen Volksarmee verweigerten und dafür in Kauf nehmen mussten, für harte und zuweilen auch gefährliche Arbeiten eingesetzt zu werden.

In Mukran schufteten sie in Senkkästen unter der Wasseroberfläche, schaufelten zwölf Stunden am Tag Morast oder entluden tonnenschwere Betonteile. Untergebracht waren sie in Block V des nie fertiggestellten Nazi-Seebades im nahen Prora. "Menschenfeindlich, entwürdigend, demokratiefeindlich", so beschreibt Schack dasLeben der Bausoldaten. "Viele Männer sind daran zerbrochen."

Nach der Fertigstellung am 2. Oktober 1986 bildete das kleine DorfMukran mit dem Hafen und dem riesigen Güterbahnhof die Schnittstelle zwischen der DDR und der UdSSR. Wenn die Güterzüge vom Schiff gerollt waren, blieb ihnen der Weg in die DDR zunächst versperrt. Die Spurbreite der russischen Eisenbahn beträgt 1520 Millimeter, in Deutschland sind es nur 1435. Im Güterbahnhof erhielten 25 Prozent der Waggons für die Weiterfahrt deutsche Achsen. 75 Prozent der Ladung wurde per Hand, Gabelstapler oder Kran auf Reichsbahn-Wagen umgeladen. Noch heute ist Mukran der einzige deutsche Bahnhof mit Breitspurgleisen. Er wirbt für sich mit dem Superlativ, westlichster Bahnhof der Transsibirischen Eisenbahn zu sein.

Ende der 80er-Jahre waren mehr als 20 Prozent der Kapazitäten für Militärtransporte vorgesehen. Die Sowjetarmee schickte Züge mit Fahrzeugen und Waffen auf die Schiffe. Umgekehrt reiste die Nationale Volksarmee der DDR mit Raketeneinheiten zum Manöver in die UdSSR.

"Wir hatten alle unsere Seesäcke auf dem Rücken", erinnert sich Wolfgang Höfer, damals Major bei der 5. Raketenbrigade der NVA. Über steile Treppen und durch enge Gänge führte der Weg der Soldaten tief nach unten in den Bauch der "Greifswald". Dreistöckige Pritschen standen in dem Raum, wo die Männer die nächsten 20 Stunden verbringen mussten. Außer der persönlichen Ausrüstung hatten sie in ihren Seesäcken Verpflegung für die Reise verstaut: Einmannrationen der NVA einschließlich Bitterschokolade mit Koffeinzusatz sowie Stullen und Schmalzkonserven.

Als Höfer am 17. August 1989 mit 200 Mann, 80 Lastwagen und der kompletten Ausrüstung in Klaipeda ankam, stand der Einheit noch eine Bahnfahrt ins 3000 Kilometer entfernte Kapustin Jar an der kasachischen Grenze bevor. "Steppenfahrt" hieß diese Tour ins Manöver, das vier Wochen dauerte. Zu Hause fand derweil eine friedliche Revolution statt, die Höfers Heimat für immer veränderte - aber darüber drangen keine Nachrichten in den Osten der UdSSR. "Als wir zurückkamen, war die DDR ein anderes Land", sagt Höfer.

Anfang der 90er-Jahre, als die sowjetische Armee die mittlerweile untergegangene DDR verließ, war das Wartehäuschen in Mukran-Mitte für viele Soldaten der letzte deutsche Bahnhof, den sie vor der Heimkehr sahen. Russland wickelte den Abzug weitgehend über diesen Hafen an der Rügener Nordostküste und über Rostock ab. Im August 1994 verließen die letzten sowjetischen Soldaten Deutschland.

Ein paar 100 Meter vom Wartehäuschen entfernt rottet die Baracke vor sich hin, in der einst die russische Armee ihre Transporte abwickelte. "Die wurden auf dem Fährkomplex ein bisschen außerhalb untergebracht", sagt ein ehemaliger Hafenmitarbeiter. "Das war politisch so gewollt." Die Fenster fehlen. Jede Steckdose, jeder Wasserhahn, jeder Kloschlüssel - die Soldaten haben alles herausgerissen und mit nach Hause genommen. Seitdem hatoffenbar niemand mehr das Gebäude betreten.

Die meisten großen Hallen mit je einem Breitspur- und einem Normalspurgleis, in denen die Güter umgeladen wurden, sind abgeschlossen. Sie tragen noch immer den typisch gelblich-bräunlichen DDR-Anstrich. In der früheren Hafenkantine Vilnius (genannt "Fresswürfel") und den großen Verwaltungsgebäuden hängen tatsächlich immer noch die Gardinen in den Fenstern. Die Gleise unter den Kränen nutzt die Deutsche Bahn als Parkplatz für eine Flotte von 60 ausgemusterten Lokomotiven der Reichsbahn. "Ludmilla" und "Taigatrommeln" hießen die Modelle im Volksmund, die unter freiem Himmel vor sich hinrosten. Die Loks zu verschrotten wäre teurer.

Von den fünf Schiffen der Linie ist die "Vilnius Seaways" das einzige, das noch immer zwischen Mukran und Klaipeda unterwegs ist. Ein paar Toilettenkabinen sind von den geheimen Räumen noch übrig. Wo früher die Soldaten unter Deck in der Dunkelheit hausten, hat die Reederei ein kleines Basketballfeld bauen lassen.

Die Reederei hat die "Vilnius Seaways" für den Transport von Lastwagen ausgerüstet. Die Breitspurgleise auf den beiden Decks sind erhalten geblieben. Wenn Güterwagen aus Litauen eintreffen, kommen die einzigen Breitspurloks Deutschlands zum Einsatz. Drei sind noch übrig. Zwei sind mindestens für den Betrieb in Mukran notwendig.

Der frühere Bausoldat Stephan Schack lebt in Naumburg an der Saale, aber er reist regelmäßig auf die Insel. "Prora hat mich radikal verändert", sagt Schack, heute selbstständiger Trainer und Berater für Demokratiepädagogik, Partizipation und interkulturelle Verständigung. Er gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Vereins Prora-Zentrum an, der im Block V eine Jugendherberge gegründet hat. "Früher haben wir Schwerter zu Pflugscharen gefordert", sagt Schack. "Heute heißt es: Kasernen zu Jugendherbergen."

Wolfgang Höfer verließ nach der Wende die Armee und gründete bei Schwerin ein Unternehmen für Catering-Logistik. Die Firma hat ihren Sitz in der ehemaligen Kaserne seiner Raketeneinheit.

Die Geschichte des Mammutprojekts Mukran erzählt Abendblatt-Redakteur Wolfgang Klietz in seinem neuen Buch "Ostseefähren im Kalten Krieg", Ch. Links-Verlag; 192 Seiten, 112 Abb., 29,90 Euro