Bis heute werden Bücher indiziert, damit das Volk manche politischen, “unmoralischen“ oder religiösen Ideen gar nicht erst kennenlernt.

Eigentlich ist Mustafa Altinpinar nur ein unbedeutender Provinzbeamter, doch seit dem 30. März 2005 steht der kleine Mann mit den großen Geheimratsecken irgendwie in einer Reihe mit Tiberius, Leo X. und Joseph Goebbels. An jenem Märztag wies der Landrat des anatolischen Städtchens Sütcüler nämlich alle öffentlichen Einrichtungen an, die Bücher von Orhan Pamuk umgehend aus den Regalen zu entfernen und öffentlich zu verbrennen.

Dabei berief er sich auf Notwehr. Der Schriftsteller habe die Nation "übelst" verleumdet und ihre Ehre tief verletzt. "Unsere Kinder", so Altinpinar entrüstet, "sollten seine Bücher nicht lesen!" In diesen Büchern ist bekanntlich vom Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 und von den Verbrechen an den Kurden die Rede.

Mustafa Altinpinar ist als "Bücherverbrennungsbeamter" in die türkischen Annalen eingegangen, obwohl die geplante Büchervernichtung gar nicht stattgefunden hat - mangels Masse. Denn in Sütcüler und um Sütcüler herum hat sich damals kein einziges Buch des späteren Literaturnobelpreisträgers auffinden lassen. "Das", meinte Altinpinar anschließend in einem Anflug von Selbstkritik, "hätte ich natürlich zuvor überprüfen lassen müssen."

Der Fall hat damals für internationale Empörung gesorgt. Der Gouverneur der Provinz Isparta sah sich veranlasst, Altinpinars Anordnung schleunigst wieder aufzuheben. Er sprach von "Amtsanmaßung" und verkündete vor laufenden Kameras, der Mann sei selbstverständlich sofort suspendiert worden! Mustafa Altinpinar ist erwartungsgemäß wieder auf die Füße gefallen. Man hat ihn einfach zum Landrat von Yesilova gemacht. Das liegt etwa 120 Kilometer westlich von Sütcüler, in der Provinz Burdur.

Natürlich hat Werner Fuld den Fall Altinpinar in "Das Buch der verbotenen Bücher" aufgenommen. Genau wie die Aktion von Stefano Gizzi und Massimo Ruspandini. Diese beiden italienischen Lokalpolitiker verbrannten am 21. Mai 2006 auf dem Marktplatz von Ceccano ein Exemplar von Dan Browns "Sakrileg", weil ihnen die darin verbreitete Theorie, Jesus und Maria Magdalena hätten zusammen Kinder gehabt, nicht passte.

Es ist also ein aktueller Stoff, dem Fuld sich widmet. Zumal auch in modernen Internetzeiten immer wieder Eiferer und Diktatoren auftauchen, die glauben, die Verbreitung unbequemer oder missliebiger Ideen durch Bücherverbote unterbinden zu können. Notfalls mit Gewalt. Hier und da hält man sich ja nicht mit Bücherverboten auf, sondern geht gleich zur Vernichtung der Schreiber über.

Die Zahlen, die der Internationale PEN Club im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse vorlegte, waren erschreckend: 30 ermordete oder verschwundene Autorinnen und Autoren, mehr als 300, die verhaftet beziehungsweise verurteilt waren. Am gefährlichsten, so der PEN-Befund, leben Schriftsteller in China und im Iran.

Allerdings war die Überzeugung, die mediale Verbreitung von Gedanken stoppen zu können, immer schon trügerisch. Fuld eröffnet sein Buch so: "Wenn Diktatoren wirklich die Macht besessen hätten, an die sie so hartnäckig und uneinsichtig glauben, gäbe es einen beträchtlichen Teil unserer Weltliteratur nicht. Dass die Werke trotz aller Verfolgungen und Verbote überlebt haben, ist ebenso bemerkenswert wie die durch alle Jahrhunderte aufs Neue widerlegte Überzeugung der Verfolger, man könnte mit der Existenz des Autors auch seine Ideen auslöschen. Die Machthaber aller Zeiten und Kulturen, vom gebildeten König bis zum primitiv-fundamentalistischen Stammesfürsten, von Augustus bis zum chinesischen Parteisekretär, waren und sind immer noch unfähig zu erkennen, dass Ideen stärker sind als Gesetze."

Fuld, der viele Jahre als Literaturkritiker für die "Frankurter Allgemeine" und "Die Zeit" gearbeitet hat, nennt sein Buch im Untertitel eine "Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute". Das klingt anmaßend, ist aber durchaus zutreffend, weil sich die Kultur- und Geistesgeschichte eben auch als eine Geschichte ihrer Verbote erzählen lässt. Denn egal ob bei den alten Chinesen, Griechen oder Römern, während der spanischen Inquisition oder der Französischen Revolution, bei den Nazis, Kommunisten oder Islamisten - Verbotsgründe ließen und lassen sich immer finden: zu aufrührerisch, zu blasphemisch, zu ketzerisch, zu unmoralisch, zu erotisch, zu brutal.

Dabei waren die jeweiligen Potentaten in ihrer Verfolgungswut durchaus energisch. Augustus' Nachfolger Tiberius, der von 14 bis 37 n.Chr. in Rom regierte, schuf einen von Spitzeln und Denunzianten gestützten Überwachungsapparat, der regelmäßig Razzien in den Schreibwerkstätten veranstaltete. Papst Leo X. (1475-1521), alarmiert durch die Erfindung des Buchdrucks, befahl die Verbrennung aller Schriften, die ohne Erlaubnis der Kirche gedruckt worden waren. In Frankreich ordnete Franz I. (1544-1560) sicherheitshalber die Zerstörung aller Druckerpressen und Gussformen an. In England wurde missliebigen Autoren die Schreibhand abgehackt und zusammen mit den Büchern geröstet, in Böhmen rühmte sich ein Jesuitenpater, dem Feuer persönlich mehr als 60 000 (!) Schriften übergeben zu haben.

Es grassierten Verbotslisten nach dem Vorbild des 1559 publizierten vatikanischen "Index librorum prohibitorum". Bibliothekare horteten "Remota" (Weggeschafftes) und "Secreta" (Geheimes) in streng gehüteten Kabinetten. (In Umberto Ecos Weltbestseller "Der Name der Rose" geht es um ein solches geheim gehaltenes Buch.) In Frankreich ließen die Revolutionäre Bücher im Namen des Fortschritts und der Vernunft auflodern. In Deutschland bewahrheitete sich im zwanzigsten Jahrhundert Heinrich Heines Vorhersage: "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen."

Seit dem Nationalsozialismus gelten Bücherverbrennungen in Europa als Zivilisationsbruch. Der Hetzappell von Propagandaminister Joseph Goebbels ging als "Feuerrede" ins kollektive Gedächtnis ein. Goebbels eröffnete das Autodafé am 10. Mai 1933 mit den Worten: "Ein Revolutionär muss alles können: Er muss ebenso groß sein im Niederreißen der Unwerte wie im Aufbauen der Werte! Und deshalb tut ihr gut daran, um diese mitternächtliche Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen!"

Erich Kästner erinnerte sich später: "1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster-feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend beim Namen. Ich war der Einzige der vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt."

Kästners Werk konnten die Nationalsozialisten nicht wirklich etwas anhaben. Seine Bücher gehören eben fest zum Kanon der Weltliteratur. "Die Geschichte der Verbote", befindet Fuld ganz richtig, "ist eine Geschichte vom Überleben." Mehr noch: Im Rückblick scheint es fast ein Ausweis literarischer Qualität zu sein, wenn ein Autor kujoniert, seine Arbeit verboten wurde. Tatsächlich hat fast jedes Werk von Weltrang irgendwann oder irgendwo mal auf einem Index gestanden. Homers "Odyssee" genauso wie Pascals "Pensées", Goethes "Werther" oder Solschenizyns "Archipel Gulag".

Schier endlos ist die Liste verbotener Bücher, und ständig kommen neue hinzu. Das, sagt Fuld, sei nichts Neues: "Neu ist, dass wir davon erfahren." Vor allem über das Internet. Das lässt sich kaum kontrollieren, wie die Chinesen im Fall des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo erfahren mussten, den sie wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" zu elf Jahren Haft verurteilten. Sein Buch "Untergang einer Supermacht - Ein Memorandum für China" wird längst online verbreitet, in Deutschland von der Deutschen Welle als Hörbuch. Saudi-Arabien, dessen Staatsführung von der Gedankenfreiheit auch nicht viel hält, hat wegen des Internets den Strafbestand der "elektronischen Verbrechen" eingeführt.

Werner Fuld rundet seine Universalgeschichte mit einem Blick auf die westliche Welt ab. Er erinnert daran, dass 1985 im Auftrag eines Darmstädter Staatsanwalts 700 Polizisten ausschwärmten, um in 285 Buchläden alle vorhandenen Exemplare von Henry Millers "Opus Pistorum" zu beschlagnahmen. Begründung: Der Roman beschreibe "in reißerischer Weise die wüstesten Sexualpraktiken". Die Wirkung verpuffte. Denn bei den eingezogenen Büchern handelte es sich durchweg um Lizenzausgaben des Europäischen Bücherbundes und des Bertelsmann Leserings - das für die Originalausgabe des Rowohlt-Verlags zuständige Amtsgericht Reinbek lehnte eine Polizeiaktion unter Hinweis auf die Kunstfreiheit ab.

Pornografie und Volksverhetzung sind in Deutschland bis heute Gründe, Bücher aus dem Verkehr zu ziehen. Obwohl es in Artikel 5 des Grundgesetzes heißt: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. (...) Eine Zensur findet nicht statt." Aber: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre."

Dieser Passus hat bekanntlich dazu geführt, dass Maxim Billers Roman "Esra" 2003 verboten wurde. Das Münchner Landgericht gab zwei Frauen recht, die ihre persönliche Geschichte bis hin zu Intimitäten wiedererkennbar in Billers Buch beschrieben sahen. Diese Entscheidung wurde vier Jahre später vom Bundesgerichtshof bestätigt. Billers Verleger sprach prompt von einem schwarzen Tag für die Freiheit der Kunst. Aber man kann das "Esra"-Urteil auch aus einem anderen, positiven Blickwinkel sehen: Irgendwie ist es ja auch ein Fortschritt, wenn jetzt private Kläger austragen, was erlaubt ist und was nicht.

Werner Fuld: "Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten", Verlag Galiani Berlin, 368 Seiten, 22,99 Euro, Werner Fuld ist zu Gast beim Lesetage-Salon, Mittwoch, 18.4., 19 Uhr: 19 Uhr, Maritim Hotel Reichshof, Kirchenallee 34-36, Ticket: 7 Euro