Zu teuer, zu unpopulär, zu wenig erfolgreich - warum es nur noch Kinderfilme im Kino gibt, die auf einer schon bekannten Vorlage beruhen.

Der Junge schleppt sich die Straße entlang. Die Lederhose, an der sämtliche Knöpfe fehlen, ist ihm bis auf die Kniekehlen gerutscht. Und ausgerechnet jetzt begegnet ihm seine Schulkameradin Violette mit den dunklen Korkenzieherlocken und diesem Lächeln, mit dem sie das gesamte Stromnetz des Landes mit Energie versorgen könnte - eines von jenen Mädchen, mit denen man auf der Stelle durchbrennen würde. Sie näht ihm hier einen roten, dort einen blauen und einen grünen Knopf an, keiner passt zum anderen. Aber Lebrac setzt lächelnd seinen Weg fort, mit stolz geschwellter Brust, als trüge er schlagsahneartiges Kaschmir auf der Haut.

Klingt bekannt? Kein Wunder, handelt es sich doch um eine Szene aus "Krieg der Knöpfe", dem Kinderbuchklassiker von Louis Pergaud, dessen Verfilmung von Regisseur Christophe Barratier in dieser Woche in den Kinos startet. Ein wunderbares Buch, mehr als 30-mal wieder aufgelegt, ein liebevoll gestalteter Film, in dem die jungen Darsteller neben Stars wie Laetitia Casta und Guillaume Canet herausragen - nur: Warum kennt der Zuschauer die Geschichten, die Figuren, selbst das Ende immer schon?

Anders gefragt: Warum gibt es keine eigenständigen Kinderstoffe im deutschen Kino zu sehen? Das Sams, Herr Taschenbier und der sprechende Ast Knerten, Hanni und Nanni, die Spy Kids und die drei Geschwister aus dem "Haus der Krokodile" - was in diesen Tagen über die Leinwände flimmert, sind allesamt Bestseller-Adaptionen, Remakes und Fortsetzungen, das öffentlich-rechtliche Fernsehen leistet seinen Beitrag mit Märchenverfilmungen; bei 25 Stück sind sie mittlerweile angekommen. Auf der Suche nach Gründen für die Ablehnung, die Mutlosigkeit unbekannten Stoffen gegenüber fällt auf: Jeder aus der Branche weiß darum, die meisten bedauern es. Und doch wird sich auf absehbare Zeit wohl wenig ändern.

Die meisten Eltern setzten beim Kinobesuch mit ihren Kindern der Einfachheit halber auf bekannte Marken, sagt Albert Wiederspiel, Leiter von Filmfest Hamburg: "Die Verleiher wollen das Risiko minimieren - und das geht natürlich am leichtesten mit einer bereits eingeführten Marke, die sich auf dem Markt bewährt hat." Die außergewöhnlichen, qualitativ hochwertigen Kinderfilme würden längst nur noch auf Festivals gezeigt, so Wiederspiel.

Das beweist auch der diesjährige Gewinner der Kinderfilmreihe der Berlinale, "Kauwboy", ein Drama des Niederländers Boudewijn Koole um einen zehnjährigen Jungen. Jojo hat seine Mutter verloren, will nicht verstehen, warum er ihr zum Geburtstag keinen Kuchen backen darf. Breitbeinig steht er auf dem Küchentisch und singt, vielmehr brüllt, spucketropfenfliegend, ein Geburtstagsständchen; nur mit Mühe kann der Vater seinen Sohn wieder auf den Boden befördern. Ein Film, der zwischen Weinen und Lachen balanciert und eine Kinderwelt zeigt, die nicht bonbonfarben und rosarot ist, sondern unbeständig und manchmal schmerzhaft. Und dann wieder voller Freude.

+++ "Das Sams im Glück": Chaos in der Küche +++

Schwer vorstellbar, dass "Kauwboy" den Sprung ins deutsche Kino schaffen wird. Kinderfilme, erst recht solche aus dem europäischen Ausland, sind teuer herauszubringen: Die Eintrittspreise sind niedriger, die Zeitfenster, in denen die Filme gezeigt werden können, kürzer als beim Erwachsenenfilm. Anders als für Laura, Wickie und die Wilden Kerle muss für unbekannte Figuren die Werbetrommel kräftig gerührt werden. Und auch Hollywood drängt mit Fantasy, Klamauk und romantischen Komödien immer stärker auf den kleinen, geschlossenen Kinderfilmmarkt.

Das Publikum für den klassischen Kinderfilm sei "heute deutlich kleiner als noch vor zehn Jahren", sagt Abaton-Chef Matthias Elwardt. "Hollywood versucht mit Filmen wie 'Harry Potter' schon die Sechsjährigen abzuwerben. Und das mit Erfolg."

Die Zahlen sprechen für sich: 2010 gab es keinen einzigen Kinderfilm im Kino, der nicht nach einer bekannten Vorlage entstanden ist. Dabei ist unbestritten, dass dieser Zustand zu kurz greift, auf Dauer unbefriedigend ist: Die Kinder von heute sind die Zuschauer von morgen - und nur, wer in frühen Jahren ästhetische Vielfalt kennengelernt hat, weiß diese später zu schätzen. Filmerziehung stärker in den Fokus zu rücken fordert deshalb auch Filmfestleiter Wiederspiel: "Ich würde mir wünschen, dass die Schulen aktiver werden, Kinder an Filme heranführen, den Umgang mit Film begleiten."

Den Arthouse-Kinderfilm zu fördern ist auch ein Anliegen von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der kürzlich betonte: "Es entstehen kaum noch Spielfilme nach eigenen Stoffen, die keine bekannte Vorlage haben, aber die Gegenwart in Deutschland und die Lebenswirklichkeit der Kinder abbilden. Hier wird eine Verarmung der Stoffe sichtbar. Marktchancen dürfen nicht zum Goldenen Kalb werden, um die die ganze Branche tanzt - inklusive der gebührenfinanzierten Sender."

Die Frage lautet doch schlicht: Welche Filme wünschen wir uns für unsere Kinder? Stoffe nämlich, die sich mit ihrem Leben, ihrem Alltag und den Themen, die sie bewegen, beschäftigen. "Buchverfilmungen sind ja nichts Schlechtes", sagt die Produzentin Elke Ried, Expertin für Kinder- und Jugendfilm. "Das Tragische ist, dass es fast ausschließlich Buchverfilmungen gibt. Für unsere Filmkultur ist es einfach nicht gut, wenn Kinder Film nicht als etwas Eigenständiges kennenlernen." Das Fernsehen stärker in die Pflicht zu nehmen fordert sie, Sendeplätze zu schaffen für Original-Kinderstoffe. Dann gäbe es auch für Verleiher und Produzenten mehr Anreize, solche Stoffe anzubieten. Unkonventionelle Stoffe, jenseits von Fantasiewelten und Flucht in die Nostalgie, wie sie so verbreitet sind.

Die Geschichte von Lebrac und seiner wilden Jungsbande im "Krieg der Knöpfe" sollte man im Kino sehen. Aber auch solche Filme, deren Ende man nicht im Buchregal nachlesen kann.

"Krieg der Knöpfe" startet Donnerstag in den Kinos.