Die Theaterstücke “One Small Radio“ und “In Ongenade (Schande)“ werfen bei den Lessingtagen Schlaglichter auf eine komplexe Welt.

Hamburg. Wie ein weiblicher Chaplin sieht sie aus. Die Beine stecken in schwarzen weiten Hochwasser-Hosen. An den Füßen glänzen Herrenschuhe. Ein Wesen, weder Mann noch Frau, scheint sie so recht gar kein Mensch zu sein. Maya Novoselska quäkt wie eine Gans und federt im Watschelgang über die Bühne der Garage des Thalia in der Gaußstraße.

Später wird sie doch noch humane Züge annehmen. Zum Vorschein kommt eine seltsam schief in ihre Zeit gebaute Frau, eine gebeutelte Künstlerexistenz. Ihrer Umgebung entfremdet, findet sie einen Anker in uferlosen Träumen. Da halten es Regisseur Stefan Moscow und seine Ehefrau Novoselska mit Federico Fellini: "Die Fantasie ist wesentlicher als die Realität." Letztere ist im Würgegriff der Tristesse in der Performance "One Small Radio" vom Theater of Satire in Sofia, das bei den Lessingtagen gastierte. Da wartet die Telefonrechnung unerbittlich auf Begleichung. Die Aufträge wollen nicht florieren. In einsamen Stunden lässt die Balkan-Prinzessin eine Nicht-Begegnung mit dem nicht existierenden Lover Revue passieren.

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Der wunderlichen Frau bleibt nur ein Radio als Angelhaken zur Welt. Die Vielstimmigkeit, die da durch den Äther fließt, übernimmt Novoselska mit vollem Stimmeinsatz gleich mit. Slapstick und grobe tierische Groteske beherrscht sie in ihrer Ein-Frau-Show genauso wie alle Schattierungen leiser Verzweiflung. Ein kleines Bühnenwunder. Auch wenn die Inszenierung des Bulgaren Moscow, der zuletzt mit Regiearbeiten wie "Cyrano" und "Klein Zaches" die Humorsparte am Thalia-Theater bediente, in vielem charmant antiquiert wirkt, ist sie doch in der Einfachheit ihrer Mittel und ihrer menschlichen Wärme ein Herzensöffner.

Es ist Halbzeit bei den Lessingtagen. Wer wollte und sich auf das Unbekannte einließ, konnte manch bislang überhörte Stimme aus der Welt vernehmen. Weg von der oft verengten Perspektive des eigenen Landes oder des eigenen Kontinentes und des gewohnten ästhetischen Repertoires.

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Das gelang mal sehr unerbittlich exakt wie in der Bühnenadaption "In Ongenade" nach dem Roman "Schande" des Literaturnobelpreisträgers John M. Coetzee, die Luk Perceval mit der Toneelgroep Amsterdam entwickelte. Selten ging ein Konzept des Regisseurs derart gut auf. Beim Erzählen des dramatisch zugespitzten Konfliktes setzte Perceval ganz auf die Interaktion ausgezeichneter Darsteller wie Gijs Scholten van Aschat und auf eine starke Szenerie aus Schaufensterpuppen seiner langjährigen Bühnenbildnerin Katrin Brack.

Weniger glücklich gelang es bislang den Tanzdarbietungen, die schöne, Lessing abgeschaute Idee vom Ich in der Welt und der Welt im Ich in eine eigene Bewegungssprache zu übersetzen. Zu beliebig wirkten die aneinandergereihten Szenen, die Constanza Macras in "Berlin Elsewhere" für die den Metropolen der Welt abgeschauten Großstadtneurosen fand. Es blieb bei zwar sehr athletischen, aber weitgehend unbeteiligt heruntergetanzten und -gesungenen Nummern.

Einen klaren Fokus ließ auch die Tanzperformance "Radical Wrong" von Wim Vandekeybus' Kompanie Ultima Vez vermissen. Auch wenn sein junger polyglotter Cast alles gab, um stürmisch und drängend sogar mithilfe von Zeitlupenkarate zwischen Campingzelten nach der eigenen globalen Identität zu fahnden. Aber es ist ja noch längst nicht aller Lessingtage Abend.

Lessingtage heute 20.00, El Cimarrón 21.00

Liebe aus Fernost (Garage), Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten T. 32 81 44 44; Infos unter www.thalia-theater.de