Auf dem neuen Hamburger Internetportal “Vocer“ diskutieren bekannte Autoren und Experten über ihre Branche. Jetzt wird es freigeschaltet

Hamburg. Für einen Hochschullehrer ist Stephan Weichert recht umtriebig. Der 38 Jahre alte Leiter des Studiengangs Journalistik an der Hamburger Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation ist so ziemlich das Gegenteil eines Wissenschaftlers, der mit Vorliebe im Elfenbeinturm haust. Gerade ist Weichert auf dem Sprung nach Berlin. Er will an der Verleihung eines Journalistenpreises teilnehmen und vorher noch Gespräche über sein Projekt "Vocer" führen. Dabei handelt es sich um ein Internetportal, das sich als "Kursbuch für die moderne Medienwelt" versteht. Es wird offiziell heute freigeschaltet.

Bevor er den Zug Richtung Hauptstadt nimmt, hat Weichert noch Zeit, um im Abaton Bistro bei Roastbeef mit Bratkartoffeln das Konzept des Portals zu erklären. Auffällig an der Website, von der es seit September bereits eine Testfassung, eine sogenannte Betaversion, gibt, ist, mit welch prominenten Namen sie aufwartet. Dort finden sich Texte von "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers und "Zeit Online"-Chefredakteur Wolfgang Blau neben Stücken des ARD-Reporters Christoph Lütgert und des Schriftstellers Peter Glaser. Heute soll ein Beitrag von "Stern TV"-Moderator Steffen Hallaschka eingestellt werden. Internet Guru Jeff Jarvis ("Was würde Google tun?") hat ebenso Artikel angekündigt wie der ehemalige Chefredakteur des "Wall Street Journal", Paul Steiger, der nun in New York die mit mehreren Pulitzer-Preisen ausgezeichnete Pro-Publica.Stiftung für investigativen Journalismus leitet.

Die Vielzahl prominenter Autoren ist deshalb bemerkenswert, weil "Vocer" selbst gemeinnützig organisiert ist und nicht durch Werbung finanziert wird. Getragen wird die Plattform vom Verein für Medien- und Journalismuskritik und finanziert von Institutionen wie der Stiftung Pressehaus NRZ, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Rudolf-Augstein-Stiftung sowie durch Spenden. Redaktionssitz ist Hamburg, aber Redaktionsräume gibt es nicht. Das Team um Redaktionsleiterin Carolin Neumann und die vier Herausgeber, zu denen neben Weichert auch der neue Chefredakteur des Netzkulturmagazins "Wired", Alexander von Streit, gehört, arbeitet gewissermaßen im virtuellen Raum.

Dass "Vocer" für bekannte Autoren interessant ist, liegt auch an Kooperationen, die der bestens vernetzte Weichert mit namhaften Publikationen eingegangen ist. So entstand der Text "Ausgezappt" von "Tagesschau"-Frau Rakers, die übrigens studierte Medienwissenschaftlerin ist, in Zusammenarbeit mit der "Welt". Das lesenswerte Stück, in dem die Autorin, die These aufstellt, dass sie "zu der letzten Generation von Fernsehleuten" gehört, "die noch bundesweit Bekanntheit genießt", erschien zuerst in der "Welt"-Serie "Wozu noch Fernsehen?" Weitere Kooperation etwa mit "Zeit Online" oder dem Deutschland Radio sind in Vorbereitung.

"Es ist schon seit Langem mein Traum, ein Portal für Medienkritik und Medienbeobachtung zu machen", sagt Weichert. Ein Vorläufer von "Vocer" war das Medienmagazin "Cover", das von 2001 bis 2005 von der Universität Hamburg herausgegeben wurde. Auch an diesem Projekt war Weichert beteiligt. Deshalb ist es kein Zufall, dass "Vocer" ein Anagramm von "Cover" ist. Der Medienwissenschaftler versteht das Kunstwort aber auch als Ableitung des lateinischen Verbs "vocare", was so viel wie "rufen" oder "die Stimme erheben" bedeutet. Die "medienkritische Stimme im Netz" sei das Portal denn auch.

Eine solche Stimme gibt es bisher nicht. Zwar hecheln täglich zahlreiche Online-Dienste die aktuellen Schlagzeilen der Medienbranche durch. Doch selten bleibt Zeit für ausgeruhte Analyse und Kritik. Wenn "Vocer" den eigenen Ansprüchen gerecht wird, dürfte das Portal ein großer Gewinn für die deutsche Medienpublizistik sein.