“Emilia Galotti“ feiert im Thalia in der Gaußstraße Premiere bei den Lessingtagen - keine fulminante Inszenierung, aber durchaus sehenswert.

Hamburg. Eindringlich strahlen die Leuchtlettern quer über die gesamte Bühnenbreite. "Wir irren des Nachts im Kreise umher und werden vom Feuer verzehrt" steht dort geschrieben. Glühbirnenfunkelhell. Allerdings auf Latein. In Girum Imus Nocte Et Consumimur Igni. Nicht nur macht das beim bildungsbürgerlichen Publikum (das die Übersetzung dennoch vorsichtshalber im Programmheft geliefert bekommt) vermutlich mehr Eindruck, es ist außerdem ein Palindrom, ein Satz, den man von vorn wie auch von hinten lesen kann: Eine ganz amüsante Spielerei, eine ziemlich pathetische allerdings, nun ja, sei's drum. Denn Marco Storman, Jahrgang 1980, hat davon abgesehen eine durchaus sehenswerte "Emilia Galotti" auf die Thalia-Bühne in der Gaußstraße gebracht. Es ist die Eigenproduktion des Thalia-Theaters anlässlich der Lessingtage. Der Lessing der Lessingtage, sozusagen. Trotzdem ist die Inszenierung in der Gaußstraße, der bescheideneren Zweitbühne des Hauses, gerade richtig aufgehoben. Denn der zeitgemäße Zugriff gelingt Storman weniger durch das Aufblättern eines gesamtgesellschaftspolitischen Panoramas - was bei den Themenfeldern Moral, Würde, Tugend versus die Dekadenz der Mächtigen inmitten der Wulff-Affäre(n) durchaus denkbar gewesen wäre - als vielmehr durch das glaubhafte Transponieren des Personals in durchweg heutige Charaktere.

Es ist ein cooler Haufen, der sich da um Moral und Würde und Anstand und ein bisschen wohl auch um so etwas wie Liebe bemüht. Die Herren (die hier ohne Ausnahme doch eher späte Jungs sind) tragen Britpop-Frisuren und gelangweilte Lässigkeit zur Schau, Emilia hat ihren BH vergessen, und sich wenig keusch in Hotpants und High Heels geworfen. So könnte die Besetzung, Adel wie Bürgertum, auch auf irgendeiner Berlin-Mitte-mäßigen Party der Fashion Week herumstehen (Kostüme: Amit Epstein) und dekorativ Teilnahmslosigkeit ausstrahlen.

Ein eigenwilliger, bisweilen eigenartiger Widerspruch zu Lessings Sätzen ergibt sich da vor allem bei der Titelfigur. Ist Emilia Galotti doch eigentlich die fast grotesk Tugendhafte, die ohne eigenes Zutun vom Prinzen gestalkt wird, weshalb dessen serviler Hofschranz ihren Verlobten ermorden lässt, woraufhin sich Emilia - darin durchaus bestärkt durch den dominanten Vater - sich als nicht verführungsresistent erkennt und entsprechend schuldig an dem Schlamassel fühlt.

Als nicht ganz kompatibel erweisen sich dabei die hier selbstbewusst angelegte Emilia als schnippisches Schneewittchen und der von ihr behauptete Gewissenskonflikt. Und da Lessings Emilia ohnehin nicht die stärkste Frauenrolle ist, die das Theater für junge Frauen bereithält, hat es Franziska Hartmann denn auch am schwersten an diesem Abend. Das starke Ensemble nämlich ist eindeutig der Grund, für den es sich lohnt, diese Inszenierung zu sehen. Vor allem Jörg Pohl als willfähriger Marinelli mit Glitzercolt-Gürtelschnalle gibt einen fabelhaft präpotenten Möchtegern-Styler unter den verwöhnten Lessing-Hipstern und wird dabei trotzdem nicht zur Karikatur. Jede Nuance, jede Geste, jeder Blick stimmt. Emilias Mutter Claudia (eigentlich auch kein ganz spannender Charakter) wird bei Karin Neuhäuser zum schrulligen Althippie, streckenweise überzieht sie das bürgerliche Trauerspiel zur herrlich grotesken Komödie und hält sich dabei immer noch an Lessing, der schließlich schrieb: "Was kümmert es die Löwin, (...) in wessen Wald sie brüllt?" Diese Löwin ist halt eine echte Rampensau.

Hans Kremer als ihr Mann Odoardo - und vielleicht noch mehr als lässig aus der Hüfte Polaroids schießender "Maler" Conti - steht ihr darin in nichts nach. Marina Galic zeigt ihre eifersüchtige Orsina als interessante, taktierende Frau mit eher unterkühlter Erotik. Sebastian Zimmler als Appiani und Thomas Niehaus als Prinz könnten wie Marinelli und Odoardo jeden Paul-Weller-Lookalike-Wettbewerb gewinnen oder - gäbe es sie noch - zumindest optisch sofort bei Oasis einsteigen.

Nicht bloß deshalb wird diese bewusst neonkalte Inszenierung sicher gut von Schulklassen und anderen jungen Theatergängern angenommen werden. Sie ist nicht fulminant, aber sie ist schnell, sie hat sehr starke Momente und auch sehr, sehr komische, ohne dabei zu verflachen oder das Ganze zu verraten. Und das leuchtende Palindrom an der Rückwand mag inhaltlich verzichtbar oder schlicht ein wenig dick aufgetragen sein - es sieht aber ohne Frage ziemlich schick aus.

"Emilia Galotti" wird in den Thalia-Spielplan übernommen, die nächsten Vorstellungen sind ausverkauft. Am 25. Januar gibt es im Rahmen des Festivals ein Publikumsgespräch, Karten gibt es wieder für die Vorstellung am 4. März.

Die Lessingtage gehen unter dem Motto "Die Welt im Ich - das Ich in der Welt" noch bis zum 4. Februar im Thalia-Theater und im Thalia in der Gaußstraße über die Bühne. Heute: Das Gastspiel "Gólgota Picnic" von Rodrigo Garcia in der Gaußstraße; morgen und übermorgen: "Berlin Elsewhere" von Constanza Macras. Das Festival endet mit der Langen Nacht der Weltreligionen am 4. Februar.