Navid Kermani kritisiert in seinem Auftaktvortrag einen engherzigen Nationalismus

Hamburg. Ein Festival so zeitgenössisch, international und politisch wie nie, verspricht Thalia-Intendant Joachim Lux in seiner Rede zur offiziellen Eröffnung der dritten Lessingtage. Der Anspruch der Stadt, ein liberaler, weltoffener Ort zu sein, schlägt sich im umfangreichen Programm aus Gastspielen, Vorträgen und Rundgängen nieder; besonders programmatisch, bewegend und eindrucksvoll jedoch breitet Navid Kermani sein Pamphlet "Vergesst Deutschland" aus. Untertitel: "Eine patriotische Rede".

Anders als in der wundervoll inszenierten literarischen Installation, bei der die Zuschauer sich vergangene Woche die Gedanken Kermanis aus seinem Buch "Dein Name" erwandert haben, gibt sich der Autor politisch-kämpferisch, dabei im Ton seiner präzisen Analysen durchaus versöhnlich. Mit dem Dichter Gotthold Ephraim Lessing leidet er an einem fragwürdigen, engherzigen, inhumanen Nationalismus.

Ausführlich beschreibt Kermani noch einmal die Umstände der Enttarnung der Zwickauer Terrorzelle des nationalsozialistischen Untergrundes, um bald eine Analogie herzustellen: zu Lessings 1759 verfasstem Einakter "Philotas". Der gleichnamige Prinz wird bei seiner ersten Schlacht gegen das Heer des feindlichen Königs Aridäus gefangen gesetzt. Er beschließt zu sterben, um seinem Vater den entscheidenden Vorteil im Konflikt zu verschaffen. "O fürwahr; der Mensch ist mächtiger, als er glaubt, der Mensch, der zu sterben weiß!" Auch die Zwickauer Terroristen hätten sich in ihrem eigenen Verständnis für das Vaterland geopfert, so Kermani. Und ausgerechnet feige seien auch Selbstmordattentäter gerade nicht. Es gelte, die Motive zu verstehen, die Vorgeschichte zu untersuchen, um politische wie religiöse Gewalt bekämpfen zu können. So sehr Lessing die Haltung des Philotas abgelehnt habe - seine Gedanken hat er nachvollzogen.

Der moderne Terrorismus ist für Kermani einer, der "seinen Schrecken aus der Wortlosigkeit" bezieht, der ohne Bekennerschreiben bleibt. Das gilt auch für die Anschläge des 11. September 2001. Die Mächtigkeit dieses neuen Typus bestehe gerade in der Absage an den politischen Diskurs.

Von hier aus schlägt Kermani einen Bogen zum gegenwärtigen Wiedererstarken des Nationalismus in Europa. Das auf Völkerverständigung angelegte Projekt befinde sich derzeit in einer Legitimationskrise. Der Patriotismus, von Lessing unter historisch ganz anderen Umständen als "heroische Schwachheit" tituliert, wie er sich in Deutschland etwa so positiv und frei von Nationalismus bei der Fußball-Weltmeisterschaft gezeigt habe, werde überall da gefährlich, wo unverrückbare Standpunkte das Bild der Realität verzerren. Hier setzt auch bei Philotas die Ideologisierung des Gemeinschaftsgefühls ein, eine, die immun ist gegen Einsicht.

Mit Lessing fordert Kermani nun einen Diskurs, in dem der Respekt für das Fremde und die Unerbittlichkeit gegen das Eigene zum Wohle des Ganzen gleichermaßen vorkommen. In einem "Wir" jenseits von Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, "Wir" im Sinne von: jeder. Im herrschenden Diskurs weltweit sieht es allerdings umgekehrt aus. Stets gilt das "Wir" als bedroht. Allen realen Entgleisungen setzt Kermani am Ende, gefolgt von lang anhaltendem Applaus, die Menschenliebe entgegen. Sie ließ auch den feindlichen König Aridäus am Irrsinn des Kampfes zweifeln. Lessing hat es schon damals gewusst. Im Festhalten am Humanen liegt die einzige Chance. Und zugleich die Botschaft dieses wichtigen Festivals.