Auf ihrem neuen Album “Stage Whisper“ schwankt die 40-jährige Charlotte Gainsbourg zwischen flockigen Popsongs und düsteren Klängen.

Was diese Frau so alles treibt. Charlotte Gainsbourg gebührt ein künstlerischer Orden allein schon dafür, wie unerbittlich sie dorthin geht, wo es wehtut. Erst überstand sie 2009 Genitalverstümmelung und destruktiven Sex für Lars von Triers Film "Antichrist" mit einen Lächeln und heimste die silberne Palme in Cannes ein. Im vergangenen Jahr lieferte sie in "Melancholia", ebenfalls vom Albtraumregisseur, als erdverbundene Schwester der deprimierten Kirsten Dunst eine mindestens ebenso bemerkenswerte Leistung ab.

Scheu vor radikalen Gefühlen kann man Gainsbourg wahrlich nicht nachsagen. Auch nicht in ihrer Musik, die wie das Spiel für die 40-Jährige eine Art Selbsttherapie zu sein scheint. Wer sie live erlebt, sieht ihre unsicher lächelnde Mutter Jane Birkin und den gegen seine Schüchternheit antrinkenden Serge Gainsbourg vor sich. Tapfer konfrontiert sich nun auch die Tochter mit ihren Bühnenängsten. Bannt sie sogar auf ein Album. Ihr neues Werk heißt "Stage Whisper". Und es klingt ein wenig, als flüstere Gainsbourg darauf mit dem Willen zur Festigkeit gegen den eigenen Horror vor der Exponierung an. Auf dem Album finden sich Live-Tracks und DVD-Mitschnitte ihrer ersten Tournee 2010 und sieben bislang unveröffentlichte Songs.

Ganz nebenbei treibt die französische Sängerin ihre musikalische Karriere in neue Windungen. Da erklingen auf einmal flockige Popsongs wie "Paradisco". In "Terrible Angels" quietschen neckisch die Synthesizer über einem pumpenden Drumcomputer, der noch aus der Vorhölle der 80er-Jahre zu stammen scheint. Dann wieder gibt sich die Anti-Diva doch eher somnambul wie in "White Telephone" oder haucht in dem eher simpel gestrickten "Anna" über einer zirpenden indischen Sitar-Gitarre. Es dauert nicht lange, und die ungewohnte Leichtigkeit wird abgelöst von den dunklen, sich am Leben reibenden Klängen, etwa in "All The Rain". Da kann man die Wucht manch unschöner Begegnung der Gainsbourg mit ihren Dämonen durchaus erahnen.

+++ Eine Chanteuse im Schlagschatten +++

+++ Und die Katze tanzt alleine im Café +++

Auch durch die neuen Songs scheint der wunderbar desillusionierte Ton des Songschreibers Beck Hansen, der schon ihr drittes Album, "IRM", veredelte. Im Titelsong verarbeitete Gainsbourg ihren schweren Wasserski-Unfall. Die erlittene Hirnblutung zog sie ein Jahr aus dem Verkehr. Andere Popstars vertonen exzessiv ihre Liebschaften; sie sang davon, wie es sich anfühlt, bei einer Magnetresonanztomografie in der Röhre zu liegen.

Auch "Stage Whisper" ist das Produkt einer Kämpferin. Angesiedelt irgendwo zwischen einem fluoreszierenden Schweben in der Welt und herbem Underground. Das liebliche "Got To Let Go", das sie mit Charlie Fink von Noah & The Whale eingesungen hat, fällt da ein wenig heraus. Allen Songs ist etwas liebenswert Windschiefes eigen. Um sich von ihrem Übervater zu emanzipieren, singt sie weiterhin auf Englisch. "Trotzdem vergleiche ich mich andauernd mit meinem Vater. Dabei schneide ich natürlich schlecht ab. Denn ich kann weder besonders gut Songtexte verfassen noch komponieren", sagt sie.

Jeder, der Charlotte Gainsbourg einmal getroffen hat, berichtet von ihrer Nervosität und zwanghaften Unsicherheit. Offen nörgelt sie an ihrer Bühnenperformance herum. Die Balance zwischen dem, was sie gibt, und dem, was sie bei sich behält, stimme noch nicht. Und so richtig "on the road" werde sie sich ohnehin niemals fühlen. Dazu sei sie viel zu alt. Im Film wie in der Musik hält sie sich für eine Spätstarterin. Inwieweit Gainsbourgs ostentative Selbstkritik berechtigt ist oder vielleicht nur der Spleen einer überspannten Künstlerin, lässt sich anhand der Live-Bilder auf "Stage Whisper" nur erahnen.

Denn wie sie da so leger in Lederhose, Shirt und Weste über die Bühne schlurft, haftet ihr die Aura einer Anti-Diva an, wie es vorher schon einige gab. Vor allem die Velvet-Underground-Sängerin Nico mag in ihrer so unprätentiösen Bühnenpräsenz als Vorgängerin gelten. Gainsbourg wirkt hier fast wie das nette Mädchen von nebenan. Vielleicht nur ein wenig verwundbarer als andere. Die erhöhte Durchlässigkeit mag ein Hindernis im Leben sein, in der Kunst ist sie überaus hilfreich.

Vor schwül in rot und violett ausgeleuchteter Bühne zeigt sie ihr scheues Reh-Lächeln. "Ich habe vor der Kamera und auf der Bühne immer dieses Gefühl, ich wäre gerne woanders", gibt sie zu. Immerhin hat sie inzwischen erkannt, dass die Leute ihre Konzerte nicht besuchen, weil sie ihre Musik hassen oder um sie mit Gegenständen zu bewerfen. Im Underground-Rock von "Set Yourself On Fire" oder dem psychedelischen "The Operation" ist zu spüren, wie sehr sie darum ringt, ihre Ängste abzuschütteln. Das Touren ist auch der Versuch, sich aus dem Schatten ihrer berühmten Eltern herauszubewegen.

Schließlich spielte sie ihren ersten Song 1984 als 13-Jährige mit ihrem Vater Serge, Über-Chansonnier und National-Ikone, ein. "Lemon Incest" stand unter Pädophilieverdacht und wurde zum Skandalhit. Ihr Debütalbum mit Filmmelodien, "Charlotte for Ever", erschien 1986. Mit zwölf Jahren drehte Gainsbourg ihren ersten Film. "Ich bin nicht stark. Ich vertraue mir nicht. Kein bisschen", sagt sie. "Ich zweifle an meiner Meinung. Ich bin gefügig und formbar. Klingt schrecklich, nicht?"

Als ihr Vater starb, verkündete die 20-Jährige, nie mehr singen zu wollen. Das hat sie nicht eingelöst. 2006 ließ sie sich von verschiedenen namhaften Künstlern den Schlafbrillenpop von "5:55" auf den schmalen Leib schneidern: Die beiden Air-Klangbastler Jean-Benoit Dunckel und Nicolas Godin waren dabei, Pulps Jarvis Cocker und Neil Hannon von The Divine Comedy waren dabei. 2009 begab sie sich in die Obhut von Beck und seinen rüden Losergitarren. Beide Vorgehensweisen brachten in ihr völlig unterschiedliche Seiten zum Klingen.

Auf "Stage Whisper" finden sich wunderbar raubeinig-wuchtige Live-Versionen von "In The End" und dem disharmonischen "IRM". Und natürlich hat sie auf Tournee doch ein paar Lieder ihres Vaters gesungen. Aufs Album sollten sie nicht. "Es hätte mich zu sehr unter Druck gesetzt. Ich habe meinen Vater immer auf ein Podest gestellt. Ist doch klar, dass ich mit dieser Einspielung gegen ihn verloren hätte", sagt sie. Und nun? "Ich habe Ideen zu Themen und Atmosphären, die ich mag", sagt Charlotte Gainsbourg. "Ich möchte jetzt entweder in eine härtere Richtung gehen oder das Gegenteil, einfache Balladen." Egal welche Richtung sie einschlägt: Künftig dürften sie ein paar Dämonen weniger begleiten.