NDR-Chefdirigent Christoph von Dohnányi über seinen einwöchigen Beethoven-Zyklus, der an diesem Sonntag in der Laeiszhalle beginnt.

Hamburg. Mit den ganz großen Aufgaben ist das so eine Sache. Brahms traute sich erst sehr spät aus dem Schatten seines Idols Beethoven an seinen symphonischen Erstling. Auch Bruckner und Mahler wurde beim Gedanken an die Zahl neun ganz sonderbar ums Gemüt. Sie war ein schier unüberwindbares Hindernis aus Unikaten eines freischaffenden Künstlers, absolute Gegenstücke zu den Dutzenden, die ein Joseph Haydn seinerzeit in genial lässiger Akkordarbeit für seinen Provinzfürsten wie auf Knopfdruck raushaute.

Diese neun formten eine Demarkationslinie gegen das Schicksal, das ja bekanntlich bei Beethoven gern mal an die Tür donnerte. Oder dem er, einem weiteren frühen Beweihräucherungs-Mythos zufolge, am liebsten furchtlos in den Rachen gegriffen hätte. So einer soll Beethoven gewesen sein. Früh ertaubt und auch deswegen meistens schlecht gelaunt. Aber immer genial weit seiner Zeit und den Zeitgenossen voraus, ein Vorkämpfer für die Freiheit des Individuums, der Kompromisse hasste wie die Pest - und irgendwann auch wie Napoleon, weil der Beethovens moralische Ideale verraten hatte.

Auch für Dirigenten ist und bleibt eine zyklische Aufführung aller Beethoven-Symphonien neben Wagners "Ring" ein Gratmesser für die Karriere, wenn es klappt, schlimmstenfalls fürs Ego, falls nicht. Jede Zeit hatte "ihre" Beethoven-Bilder und -Klangbilder. Wer mit der Berliner Wertarbeit-Opulenz von Karajan groß geworden ist, für den waren die gegen den Strich gebürsteten Revolutionen durch Harnoncourt oder Gardiner bewusstseinserweiternd. Zuletzt ließ Paavo Järvi mit der Bremer Kammerphilharmonie frischen Wind um Ludwigs Denkmal wehen.

Christoph von Dohnányi sieht das Gewese um die monumentalen neun eher pragmatisch. Nicht gelassen, aber respektvoll und mit viel Vorfreude. Denn er will alle neune innerhalb einer Woche in der Laeiszhalle dirigieren. Ziel ist eine Monokultur, wie sie ansonsten im Konzertplan-Allerlei vermieden wird. Es ist auch eine rigide Erziehungsmaßnahme alter Schule. Konzentration auf Wesentliches, auf ein Zentralgestirn der Musikgeschichte. "Diese Musik ist ganz weitgehend die Basis für die Musik des 19. Jahrhundert. So kann sich eine musikalische Welt öffnen, die sonst verschlossen bliebe." Für den 81 Jahre alten NDR-Chefdirigenten ist es der zweite Anlauf auf dieses Hochmassiv; seinen ersten hatte er mit dem Cleveland Orchestra unternommen.

Eine der größten Problemstellungen: die richtigen Tempi zu finden. Überliefert sind zwar viele Metronom-Angaben vom Komponisten, was aber nicht heißt, dass man ihnen ständig gehorchen sollte, findet auch Dohnányi. "Beim Lesen kann ich mich dran halten, aber nicht beim Ausführen. Man hat absolut das Recht, die Tempi, die Beethoven 1817 in totaler Taubheit angegeben hat, zu relativeren. Aber seine Metronomangaben bleiben in ihrer Relation zueinander äußerst wichtig."

Als Sir Simon Rattle wegen seines Neuners mit den Wiener Philharmonikern gefragt wurde, warum er dem großen Berg von Beethoven-Einspielungen eine weitere hinzufüge, antwortete er: "Um zu bestätigen, dass man immer wieder daran scheitern könnte." Dohnányi dazu: "Bei diesem Konjunktiv bin ich ein bisschen skeptisch. Sie können große Kunst nicht im wörtlichen Sinne gültig interpretieren. Es bleibt immer beim Versuch, so muss es sein."

Von Heine, der ansonsten nicht so leicht zu beeindrucken war, stammt der Ausspruch, man könne Beethoven "nicht unverändert in der Seele, ohne Ergriffenheit und Aufschwung, ohne Schrecken und Scham oder Trauer, ohne Weh und Freudenschauer hören". Auch auf dieses blumig formulierte Anhimmeln reagiert Dohnányi leicht allergisch: "Beethoven für uns heute kann nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen Zitaten von Zeitgenossen funktionieren. Man muss sie kennen, aber anders verarbeiten. Ich sehe Beethoven sehr anders." Für ihn ist er vor allem "ein gigantischer Techniker. Er wusste enorm gut zu komponieren. Mozart mag offhand der Genialere gewesen sein - das Komponieren fiel ihm leichter. Aber Beethoven war der, der die Musik wirklich weitergebracht und dabei nie Formen gesprengt hat, ohne sie durch wesentlich neue zu ersetzen."

Wie so oft in der Kunst ist auch bei Beethovens "Big Nine" problematisch, dass diese Meisterwerke so bekannt wirken. Dass doch alles über diese Musik längst gesagt, ausprobiert, variiert wurde. "Für den, der vom Metier etwas versteht, hat sie eine zusätzliche Genialität im Formalen, die ein Zuhörer in diesem Sinne auch gar nicht verstehen muss", meint Dohnányi, "Aber er spürt, es ist etwas an Architektur vorhanden, was ziemlich einmalig ist. Uns beiden würde ja auch unter Umständen das Didididaa einfallen, die vier Noten vom Anfang der Fünften. Das Unglaubliche ist, was Beethoven daraus macht."

Die gern genommene Abonnenten-Faustregel "Die mit den geraden Nummern sind schlechter als die mit den ungeraden" will Dohnányi allerdings nicht gelten lassen. "Das wäre, als ob Sie Landschaften vergleichen. Es ist anders. Beethoven hat in besonders lichten Zeiten tiefgehende Musik geschrieben und sich in problemvollen Zeiten oft in der klareren klassischen Form ausgedrückt."

Nur von der Idee, diese Stücke im Sinne der historischen Aufführungspraxis beispielsweise mit Naturhörnern und -trompeten zu spielen, hält er noch weniger: "Nix da. Dann müsste man das ganze Instrumentarium anders machen und in ganz andere Säle gehen. Auch in einer anderen Form leben. Wir sind das nicht mehr. Der Anfang vom letzten Satz der Neunten - das war damals eine wahnsinnig erschreckende Geschichte, das d-moll mit dem b drin. Heute ist das nicht mehr so zu vermitteln. Sie erreichen das auch nicht dadurch, dass Sie es auf alten Instrumenten spielen lassen." Effekt sei das, "intellektuell wichtig", ja, das schon, aber eben "museal". "Im Wissen um die Musik der Vergangenheit müssen wir heute im Geist der Gegenwart musizieren."

Damit wären wir beim Schlussstein des Mosaiks aus Tönen, dem ersten, das auch Worte fand und nutzte für das, was bis dahin nur die Musik ausdrücken sollte. Beethovens Opus 125, die Neunte. Ein Meisterwerk, finden sehr viele - bis auf Debussy ("Das Werk, über das der meiste Blödsinn geschrieben wurde"). Kein Wunder, findet Dohnányi. "Eine Dekade seines Lebens, in einem Stück gebündelt, muss ein sehr wichtiges Werk werden." "Er hat als sehr politischer Mensch bestimmt enorm unter der Restauration gelitten, unter Metternich und Konsorten, unter seiner vehementesten Enttäuschung durch Napoleon. Das alles zu verarbeiten, brauchte eben auch ein Jahrzehnt."

Tragischerweise ist Beethoven am 26. März 1827, wenige Jahre nach der Vollendung der Neunten, gestorben. "Schwer vorstellbar, dass dies nicht das Ende gewesen wäre", sinniert Dohnányi. "Wohin noch? Wir wissen, Beethoven hatte Pläne für eine Zehnte. Wir können uns eine Steigerung nach seiner Neunten kaum vorstellen."

Wer Bach hört, glaubt auch an Gott, könnte man behaupten. Und wer Beethoven hört, fängt an zu zweifeln? "Erstens muss man nicht notwendigerweise gläubig sein, wenn man Beethoven hört. Zweitens hatte er eine sehr starke Affinität zu seinem Gott. Viele bedeutende Menschen haben Schwierigkeiten damit, an vorformulierte Götter zu glauben." Einer dieser Menschen, ein aufbrausender Bonner in Wien, hat seine neun Gebote lieber selbst formuliert.

NDR-Konzerte : 2. Mai (11 Uhr): Nr. 1, 2, 5 - 3. Mai (20 Uhr): Nr. 4, 3 - 5. Mai (20 Uhr): Nr. 6, 7 - 9. Mai (20 Uhr): Nr. 8, 9. Laeiszhalle, mit Michaela Kaune, Janina Baechle, Klaus Florian Voigt, Thomas Johannes Mayer, NDR Chor, RIAS Kammerchor.

Die Hamburger Konzerte am 2. und 3.5. werden auf NDR Kultur übertragen, 8.5. (18 Uhr): Live-Übertragung der 9. Symphonie aus Wismar.