Eine Starsopranistin hat auf ihre Tochter gehört - zum Glück für die vom Glück sonst nicht gerade verwöhnten Hamburger Opernfans.

Hamburg. Sie hat es aus Liebe getan. Das ist die einzige Erklärung für so viel Unvernunft. Denn alles sprach dagegen. Endlich mal hatte Nadja Michael sich sechs Wochen freigeschaufelt. Sie wollte Zeit haben für das intensive Rollenstudium der Medea, die sie bald an der Bayerischen Staatsoper München singen wird, und Zeit für die beiden Töchter. Dem Kindermädchen hatte sie schon Urlaub gegeben. Und als Gast in einen Repertoirebetrieb einsteigen, das tut sie auch nur sehr ungern. Also hat sie abgesagt. Und zugesagt. Und wieder abgesagt.

Aber bei dieser Rolle, bei dieser Figur, gelten andere Regeln. Salome - das ist fast so etwas wie das Spiegelbild der Nadja Michael in der Kunst. Salome, dieses verrückte, maßlose, unschuldige, mörderische Kind an der Schwelle zur Frau, diese genial konstruierte Opernerfindung des Richard Strauss - geformt nach der literarischen Figur von Oscar Wilde, der sich wiederum auf die Bibel berufen konnte, wo die Geschichte von Salome, Herodes, Herodias und Johannes dem Täufer in den Evangelien des Matthäus und des Markus erzählt wird -, diese Salome ist sozusagen ihre Zwillingsseele.

Emily Magee, die die Rolle in Willy Deckers Inszenierung aus dem Jahr 1995 an der Hamburgischen Staatsoper jetzt im März hatte singen sollen, musste krankheitsbedingt absagen. Nadja Michael zu bitten, ob sie einspringen könne, lag nahe: Die in Leipzig geborene Sopranistin ist zurzeit die Salome, die auf den Opernbühnen der Welt das größte Aufsehen und Aufhorchen erregt - ob in Mailand an der Scala, im Covent Garden in London, an der Staatsoper Berlin oder in San Francisco. Und als nach all den Zweifeln die größere der beiden Töchter (9) sagte: "Mama, das musst du machen. Das darf doch nicht ausfallen!", hat Nadja Michael schließlich zugesagt.

Wie die hochgewachsene Operndiva in einer Probenpause jetzt in Hamburg vor der Baustelle am Bühneneingang der Staatsoper entlangstöckelt auf ihren gefühlt 30 Zentimeter hohen Absätzen, eingehüllt in ein extrem figurbetontes Kleid und eine senffarbene Jacke, um den Hals eine mondäne, in Fuchsiatönen changierende Kunstfellstola, lassen gleich beide der gerade anwesenden Bauarbeiter vor Staunen die Schaufel sinken. Mit ihren goldgelben, kurzen Haaren, frisiert in einer verwegenen Mischung aus 20er-Jahren und futuristischem Vamp, ist Nadja Michael eine glamouröse Erscheinung, nicht nur an Werktagen zur Mittagszeit. "Ich hab mich ein bisschen für Sie schön gemacht", sagt sie zur Begrüßung - und meint den Fotografen, der sich mit oben stehender Aufnahme für die Mühe revanchiert.

Die Fotosession dauerte kaum fünf Minuten. Nadja Michael kann auch das. Sie hat gemodelt, um sich ihr Gesangsstudium zu finanzieren. Auf der Kinderjugendsportschule in Leipzig wurde sie auf ein Leben als Leistungsschwimmerin vorbereitet. Aber von klein auf war sie vom Singen fasziniert. Ihre Mutter guckte gern den "Kessel Buntes", die Unterhaltungsmusiksendung im DDR-Fernsehen, und die Tochter schaute gebannt auf die Sänger, die da vermittels ihrer Stimme ihr Herz ausschütteten.

Zäh hat sich Nadja Michael, die zu späten DDR-Zeiten über Ungarn in den Westen floh, ganz nach vorn gearbeitet. Ihre Stimme hat Power und Zwischentöne, und Kritiker und Publikum ergreift sie - ob als Tosca oder Lady Macbeth, als Kundry oder in der Doppelrolle als Venus und Elisabeth im "Tannhäuser" in Berlin - mit einer Art der Rollendarstellung, die bei aller künstlerischen Disziplin eine ungewöhnliche physische Präsenz hat, unverhohlene Sinnlichkeit, etwas Animalisches.

Auch in der Zurücknahme: Die heikle Szene, in der Salome den abgeschlagenen Kopf des Jochanaan küsst, versteht sie nicht als bösen Triumph des Kindes, das seinen Willen erfüllt bekommen hat. Sie gestaltet ihn vielmehr als großen, zarten Moment der Liebe. "Mir kommen da regelmäßig fast die Tränen, wie dieses Mädchen zerstören muss, um das berühren zu können, was sie liebt."

"Salome" mit Nadja Michael: 21. und 31.3. 19.30 Uhr, 28.3. 16 Uhr, Staatsoper, Kartentelefon 35 68 68