Fotografie: Außergewöhnliche Kunstaktion

Nackter Wahnsinn vor Sydneys Oper

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Armgard Seegers

Foto: dpa / dpa/DPA

Spencer Tunick fotografiert weltweit Freiwillige, die sich für ihn ausziehen. Ihm gelingen spektakuläre Bilder. Warum machen da so viele mit?

Hamburg. Dicke, dünne, große, kleine Menschen und sogar eine sehr weit fortgeschrittene Schwangere, die die Geburt ihrer Zwillinge verlegt hatte, damit sie noch teilnehmen konnte, kamen am Montag in den frühen Morgenstunden vor dem Opernhaus von Sydney zusammen, um sich fotografieren zu lassen. Nackt fotografieren zu lassen. Und damit Teil einer weiteren Aktion des New Yorker Fotokünstlers Spencer Tunick zu werden, der seit 1992 in bislang knapp 100 Aktionen überall auf der Welt Gruppen nackter Menschen an ungewöhnlichen Orten und vor Sehenswürdigkeiten fotografiert. 5200 kamen diesmal zusammen; Tunick hatte nur mit 2000 Menschen gerechnet.

Warum sind so viele Menschen scharf darauf, als winzig kleine Mitwirkende auf Tunicks Fotos zu erscheinen? Auf dem Zocalo, dem größten Platz von Mexico City beispielsweise, trafen sich gleich 20 000 nackt, um in Reih und Glied (eine Beschreibung, die sich in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängt) wie die chinesische Armee zu posieren. Oder auch, um übereinander zu liegen oder auf allen Vieren zu hocken. Das möchte man sich eher nicht so genau vorstellen, was man da vom nackten Vordermann vor dem Gesicht hat.

Ein 50-jähriger Anwalt, der bei einer von Tunicks Aktionen im Wiener Ernst-Happel-Stadion 2008 teilgenommen hatte, fühlte sich angesprochen, weil "man einmal im Leben etwas Witziges machen möchte". Eine Mittdreißigerin aus dem Versicherungswesen argumentiert ähnlich: "Ich möchte einmal im Leben aus mir rauskommen und etwas tun, das keiner von mir erwartet."

Wie geht das eigentlich? Man folgt einem Aufruf, zieht sich aus, hört auf die Anweisungen, die der Fotograf per Megafon gibt - etwa "Umarmt euch", "Setzt euch aufs Fahrrad", "Alle mal hinlegen". Meist ist es auch noch sehr früh am Morgen und kalt. Geld gibt es auch keins, nur ein signiertes Foto.

Warum machen Menschen das? Wildfremde umarmen, wo man doch oft genug schon Schwierigkeiten hat, neben jemandem im Fahrstuhl zu stehen, der ein bisschen müffelt. Sind die anderen sauber, pickelfrei und appetitlich? Wundert man sich über die doch recht unterschiedlichen Ausprägungen der Natur bei den anderen? Worüber unterhält man sich, wenn man lange nackt nebeneinander warten muss? Pieksen die Steine, auf die sich die Menschen auf einer irischen Mole legen müssen? Findet man am Ende seine Unterwäsche wieder? Wohin, wenn man mal muss? Wie verhält man sich, wenn man einen Kollegen trifft?

Erfrieren die Füße der Nackten, die auf dem Schweizer Aletsch-Gletscher für eine Umwelt-Kampagne malerisch angeordnet wurden?

Immerhin diese Frage lässt sich beantworten: Während der Wartezeit wurden Frottee-Pantoffeln verteilt.

Tunicks Fotos sehen wirklich spektakulär aus. Singulär stechen sie heraus aus dem täglich millionenfach angebotenen Bilderschwall. Unfälle, Geburten, Reisereportagen, die Natur und vor allem Sex, Sex, Sex werden fotografisch auf Papier, dem Handy, im Netz oder Fernsehen in solch einem Übermaß präsentiert, dass man ihnen an keinem Ort der Erde entkommt.

Tunick dagegen drückt künstlerisch etwas aus, das anders ist, beeindruckend, großartig, wiedererkennbar. Man muss nur mal ein x-beliebiges Foto von ihm anschauen, um von diesen Landschaftsskulpturen und Nackt-Installationen begeistert zu sein. In Miami Beach liegen Menschenmassen wie Sardinen aufgereiht auf Handtüchern, im Düsseldorfer Kunstmuseum werden sie um ein dralles Aktgemälde drapiert. Nackte bevölkern leere Straßen, sie liegen wie verdorbene Waren zwischen Containern im Hafen, oder sie bilden eine Brücke.

Vor allem sind die Bilder Hingucker. Und zwar nicht, weil sie nackte Menschen zeigen, sondern weil die Fotos ästhetisch, einzigartig und aufregend sind. Tunick fotografiert keine Bilder für Voyeure. Eher welche für Liebhaber.