Im Thalia-Theater erhält der Publizist Klaus Happrecht zum Ende der Lessingtage den Preis, der nur alle vier Jahre vergeben wird.

Hamburg. Mit Klaus Harpprecht zu sprechen ist das reine Vergnügen. Der Mann formuliert druckreif und nimmt sein Gegenüber mit wissender Gelassenheit mit auf eine Rundreise durch die europäische Geistesgeschichte. Kein Wunder, dass der Publizist jetzt den Lessing-Preis erhält. Seine Devise: "Die Leidenschaft für den Journalismus sollte sich aus der Leidenschaft für das Wort speisen und aus der Leidenschaft zur Wahrhaftigkeit."

Abendblatt:

Herr Harpprecht, was verbindet Sie mit Lessing?

Klaus Harpprecht:

Die Epoche der Aufklärung ist für mich eine Epoche von zentraler Bedeutung, vor allem, weil wir durch die nur teilweise Akzeptanz der Aufklärung und ihrer Botschaft in die Katastrophen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts hineingeraten sind. Durch eine zu Ende gedachte und in der Politik angewandte Aufklärung, die zu einer deutschen Demokratie geführt hätte, wäre uns - und Europa mit uns - das braune Fiasko erspart geblieben.

Abendblatt:

Wer Lessing als vertextetes Museum abtut, irrt also gewaltig.

Harpprecht:

Stimmt. Lessing hat eine ungeheure Aktualität. Die Botschaft der Toleranz, über die manche meiner intellektuellen Gevattern glauben erhaben zu sein, die ist von größerer Wichtigkeit als jemals zuvor. Durch die Völkerwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Frage der gegenseitigen Duldung und Anerkennung wichtiger denn je geworden. Lessings Thema war ja die Auseinandersetzung mit den drei großen monotheistischen Religionen und ihren Kulturen. Seine Antwort der Toleranz war beispielhaft. Ich staune, mit welcher unglaublichen Sicherheit schon der 20-Jährige in dem Lustspiel "Die Juden" die ganzen gängigen Vorurteile über den Haufen gerannt hat. Wie kam er nur dazu, unter welchen Einflüssen? Er ist zwar Voltaire begegnet und hat ihn auch übersetzt. Aber bei ihm kann er seinen Aufstand gegen den Antisemitismus nicht gelernt haben, denn leider war das eine von Voltaires Schwächen.

Abendblatt:

Kann man Lessing mit Kategorien wie "liberal" oder "wertkonservativ" gerecht werden, passt er überhaupt in solche Schemata?

Harpprecht:

"Wertkonservativ" würde ich ihn nicht nennen, obwohl er weiß Gott Werte anerkannt hat. Aber das ist mir ein zu schwabbelig neudeutscher Begriff geworden. "Liberal"? Im weitesten Sinne ja. Liberal bis libertär. Wenn man in seine Stücke genauer hineinhorcht, erkennt man, dass sich dort ein bürgerliches Selbstbewusstsein angemeldet hat, das keineswegs üblich war.

Abendblatt:

Es gibt Lessing-Zitate, die wir sofort unterschreiben könnten. In "Emilia Galotti" heißt es: "Wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren."

Harpprecht:

Ja! Das ist ein wunderbares Zitat!

Abendblatt:

Noch schöner: "Ein Kluger bemerkt alles - ein Dummer macht über alles eine Bemerkung."

Harpprecht:

Das sollten wir alle auf einem großen Schild über unsere Schreibtische hängen, damit hat Lessing wirklich eine Grundsünde unseres Berufs beim Namen genannt. Man kann von ihm sehr viel auch über Polemik und geschliffenen Witz lernen.

Abendblatt:

Hat Sie genau das im Laufe Ihrer Berufsjahre immer mehr gereizt - der Griff zum feineren Florett, anstatt nur den Säbel zu schwingen?

Harpprecht:

Das kann man so sagen. Es gab in der Politik schon Augenblicke, wo in Willy Brandts Reden der große Säbel notwendig war. Aber an der Florettkunst ist mir mehr gelegen, sie hat wenigstens eine gewisse Grazie und man lernt bei ihr nie aus. Dem Gegenüber fallen ja auch immer neue Hiebe ein.

Abendblatt:

Wenn Sie sich ansehen, wer heutzutage so im Bundestag vor sich her redet, müssten Sie angesichts dieses Rhetorik-Elends weinend aus dem Saal gehen.

Harpprecht:

Da haben Sie sehr recht. Ich würde nicht nur weinend herausrennen, ich traue mich kaum mehr hinein. Aber ich hatte auch Glück: Die erste Generation der Nachkriegspolitiker waren in einer ganz anderen Weise gereift, durch schwere Heimsuchungen - Krieg, Emigration, Konzentrationslager. Sie waren von sehr hohem moralischen Niveau, teilweise von einem sehr hohen intellektuellen Niveau. Und eben auch von einem hohen rhetorischen Niveau. Das alles hat sich in einer merkwürdigen Weise nivelliert. Ich bin zwar froh, dass wir es bei den Politikern heute mit einer Generation der Schicksalslosen zu tun haben, aber man soll sich nicht wundern, dass den Bürgern bei dieser Politik auch ein kleines bisschen langweilig wird. Sie reden zwar viel, aber an den Bürgern vorbei. Wo sind die großen Redner, die die Herzen bewegen können? Daran fehlt es sehr.

Abendblatt:

Das klingt jetzt aber auch nach nostalgischer Verklärung, nach "Früher war alles besser".

Harpprecht:

Ich hoffe, dass ich dagegen gewappnet bin. Ich fand früher keineswegs alles besser. Dabei denke ich nun gar nicht an Nazismus und Krieg, das versteht sich von selber. Aber es ist von unserer Republik und auch von unseren europäischen Nachbarn unendlich viel geleistet worden, auch sozial. Ich möchte in keinem anderen Zeitalter gelebt haben als in jenem, das uns die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Aufbau Europas beschert hat.

Abendblatt:

Kann man, wenn man wie Sie im Ausland lebt, Patriot sein? Geht das dort besonders gut, weil man ferner von der Heimat ist?

Harpprecht:

Ich bin mit dem Wort Patriotismus ein wenig zurückhaltend, weil ich zu viel Missbrauch dieses Begriffs erlebt habe. Ich gebe mir mit meiner Frau alle Mühe, in unserer Existenz zwischen Frankreich und Deutschland ein europäischer Patriot zu sein.

Abendblatt:

Sind Sie im Laufe der Jahre optimistischer oder pessimistischer geworden angesichts der politischen Realitäten?

Harpprecht:

Ich habe in meiner Jugend die größte europäische Katastrophe miterlebt. Meine Frau und ihre Familie waren auch Opfer, durch die Verschleppung nach Auschwitz, die sie mit Gottes Hilfe überlebt hat. Wenn Sie das Leben so angefangen haben, dann kann man nicht pessimistisch sein. Einen Rückfall dorthin wird es nicht so ohne Weiteres geben. Ich glaube, dass die Gesellschaft sich auch geschützt hat. Ich behaupte nicht, dass sie immun ist. Zwei Beispiele nur: Was haben die Väter des Grundgesetzes nicht alles aus den Fehlern und Schwierigkeiten der Weimarer Verfassung gelernt? Und zweitens: die Gründung des Sozialstaats. Uns ist noch gar nicht klar genug, dass die große Wirtschaftskrise vor allem durch den Aufbau des Sozialstaats halbwegs im Zaum gehalten werden konnte. Weil der den Menschen - im Gegensatz zu den 20er- und 30er-Jahren - noch eine Grundexistenz gewährt. Sie haben noch Geld zum Ausgeben. Damals bedeutete Arbeitslosigkeit Hunger! Also ist der Sozialstaat - halten Sie das bitte nicht für Pathos oder Zynismus - die Rettung des Kapitalismus.

Abendblatt:

All das, was Sie bislang erzählt haben, klingt nicht so, als ob Ihre Frau Sie mit Leichtigkeit vom Schreibtisch wegbekäme.

Harpprecht:

Nein, aber was ich tue, macht mir eben große Freude. Ich konnte immer tun, was ich schon als junger Mensch ersehnt habe - in Freiheit schreiben.

Abendblatt:

Und im Zweifelsfall Dinge besser wissen.

Harpprecht:

Das ist nicht immer und unbedingt der Fall. Es wäre auch gut, wenn meine Frau Alarm schlägt, falls sie mich dabei ertappt, immer alles besser zu wissen.

Abendblatt:

Spüren Sie inzwischen Altersmilde?

Harpprecht:

Wissen Sie, es gibt ein schönes Sprichwort im Amerikanischen: Old age is not for sissies .

Klaus Harpprecht, 1927 in Stuttgart geboren, war Redenschreiber für Willy Brandt, hat u. a. für die "Zeit" und die "Süddeutsche Zeitung" gearbeitet, war "Geo"-Chefredakteur. Er hat Dokumentarfilme gedreht und Biografien über Thomas Mann und Marion Gräfin Dönhoff verfasst. Für die Lessing-Preis-Jury gehört er zu dem halben Dutzend politischer Journalisten, die über sechs Jahrzehnte hinweg die Publizistik des Landes geistig und schreiberisch geprägt haben. Michael Naumann nannte ihn den "ersten globalisierten Geist der Republik". Der Preis wird am Sonntag, 11 Uhr, im Thalia übergeben. Der Eintritt ist frei. Die nach dem Dichter und Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) bekannte Auszeichnung ging bislang u. a. an Hanns Henny Jahnn, Hannah Arendt und Botho Strauß. Klaus Harpprecht lebt heute als Autor im südfranzösischen La Croix-Valmer.