Donizettis Belcanto-Hit “Lucia di Lammermoor“ ließ die großen Gefühle vermissen. Die wurden mit den Sängern auf zwei Palmen verschaukelt.

Hamburg. Der düsteren Geschichte von Romeo und Julia steht das finstere Geschehen in "Lucia di Lammermoor" in nichts nach. In beiden Dramen geht es um verbotene Liebe, die am Hass zwischen zwei Familien scheitert. Am Sonntagabend hatte Gaetano Donizettis Belcanto-Hit in der Staatsoper unter Leitung von Opernchefin Simone Young Premiere.

Um es gleich zu sagen: Von einem rundweg gelungenen Abend ist diese "Lucia" noch um einiges entfernt. Und die Buhs am Ende hat sich Regisseurin Sandra Leupold mit ihrer kopflastigen Interpretation des Hochland-Dramas redlich verdient.

Zwar ist es eine gute Idee, in einer Deutungslücke Sinn stiften zu wollen, die fast jedem Zuhörer auffällt: Warum singen die so schön zum grässlichen Geschehen? Leupold platziert die Handlung auf einer Bühne - Theater im Theater, wir schauen hinter die Kulissen der großen Illusionsmaschine (Bühnenbild: Stefan Heinrichs). Ihr Konzept ist eine unfrohe Dekonstruktion des Dramas und seiner treibenden Gefühle. Die Handlungsorte scheinen als Gemälde an Kulissenteilen auf, die - zuweilen transparent ausgeleuchtet - den Blick auf Mitspieler freigeben. Kaltes Werkstatt-Licht, gefühlsfalsche Lichtintonation, abrupte Lichtwechsel brechen gewollt die Illusion.

Was aber kommt, wenn der schöne Schein zerstört ist? In dieser Inszenierung wenig. Ein sinnvolles Mit- oder Gegeneinander der Personen, Rausch der Gefühle, Aufgewühltsein - all das fehlt über weite Strecken und macht einem faden Nebeneinander Platz, dem die grandiosen Ohrwürmer Donizettis zweifelhafte Sahnehäubchen aufsetzen dürfen. Einzig der Schluss überzeugt: Lucias Wahn und der Einfall, Edgardo zum Selbstmord sein Alter Ego, den statusbesorgten Widersacher Enrico an die Seite zu setzen, der beim Sterben fast liebevoll den Arm des Gegners hält. Ein Hauch von Hoffnung?

Das Misstrauen der Regie gegenüber der Musik hat Folgen für die Sänger. Der Chor, mit großartigen Kostümen ausstaffiert (Esther Bialas - und ein praller Griff ins volle Können der Gewandmeisterei), quält sich anfangs durch unbeholfene bis alberne Bewegungen; erst rund um die Wahnsinnsszene darf er namenloses Entsetzen spielen und die Sehnsucht nach Glück tanzen, von dem Lucia in ihrem Irrsinn singt. Das berührt.

Lucia und ihren Geliebten Edgardo zum Liebesduett "Verranno a te sull' aure" auf zwei schwankende Schunkel-Palmen zu treiben, wo die Aufmerksamkeit eher dem bedrohten Gleichgewicht als der Stimme gilt - das ist den Sängern gegenüber so unsensibel wie die Idee, andere extrem fordernde Passagen liegend, sitzend, kletternd, hingelungert oder auf dem Arm getragen singen zu lassen. Da kann der Stimmapparat manchmal nur eingeklemmt "Nein" sagen. Trieb das Edgardo kurz vor seinem Selbstmord hart an den stimmlichen K. o.?

Diese Regie wirkt bemüht und kann nicht mal ernsthaft verstören. Zwar wird sichtbar, wie seelenverwandt sich die Todfeinde Edgardo und Enrico in ihrem Hass sind. Aber die meisten Bilder bleiben blass gegenüber dem Belcanto, dem schönen Gesang.

Im Prinzip jedenfalls. Denn der Sopran von Ha Young Lee (Lucia) wirkte anfangs verschlossen, er taute erst in den Duetten mit Edgardo und Enrico auf. Ihre Intonation lag zwar nie wirklich neben der Spur, geriet aber anfangs mehrfach beängstigend nah an die Leitplanke. Übergroße Nervosität? Muss wohl, denn sie konnte sich kontinuierlich steigern bis zu ihrer großen Wahnsinnsszene im dritten Akt. Die sang sie traumhaft sicher und lupenrein intoniert im Duett mit der Glasharmonika (großartig: Sascha Reckert), die Traumklänge aus einer besseren (Wahn-)Welt beisteuerte. Hier zieht die Regie endlich mal am selben Strang: Mit der blutigen Tatwaffe, die eben noch Zwangsehemann Arturo tödlich traf, schneidet Lucia die sahneweiße Hochzeitstorte an und verteilt Stück um Stück - an die immer gleiche Choristin. Da, in ihrer atemberaubenden Kadenz mit der Glasharmonika, darf Ha Young Lee ihrer Lucia, die glaubt, mit Edgardo Hochzeit zu feiern, genau jene irreparable, erschütternde Realitätsferne geben, die dem Zuhörer Tränen in die Augen treiben kann.

Ensemblemitglied ist auch Bariton George Petean, der Lucias Bruder Enrico von Beginn an mit Belcanto-Draufgängertum, Kraft und hoher Singkultur gab. Gasttenor Saimir Pirgu (Edgardo) ist groß als enttäuschter Edgardo, der Lucia Verrat vorwirft und sie verdammt - da liegt Drama in der Stimme. In der Höhe meistert er lyrische Passagen auch mal mit Schmelz und dezenter Schärfe. In den tieferen Lagen aber fehlt Volumen.

Ein Eindruck, den das immer wieder zu laute Orchester unselig verstärkte. Ärgerlich, weil Simone Young das leicht hätte in die Balance mit den Sängern bringen können und weil die Philharmoniker ohne zu viel Zuckerguss, präzise und hervorragend disponiert auftraten - auf ihre Blechbläser, besonders auf die Hörner, kann sich Simone Young inzwischen blind verlassen.

Jun-Sang Hans Stimme (Arturo) aber blieb viel zu dünn für die große Bühne, Ziad Nehmes Normanno konnte da eher mithalten. Alexander Tsymbalyuks Raimondo überzeugte im profunden Bass, Renate Spinglers Alisa im Mezzo. Das berühmte Sextett nach dem ungebetenen Erscheinen Edgardos auf Lucias Hochzeit mit Arturo zerbröselte allerdings, ohne zum großen Spannungsbogen zu finden - zu inhomogen sangen da die Beteiligten.

Am Anfang des dritten Akts gab es überraschende, kräftige Buhs, als Simone Young ans Pult trat. Organisiertes Missfallen gegen die Dirigentin? Gegen die Intendantin? Oder Mini-Randale, nur weil NDR Kultur alles live übertrug und man ins Radio wollte? Am Ende gab es Buhs nur noch für das Regie-Team. Doch so groß der Jubel für die Sänger nach den letzten Tönen war, so rasch versiegte der Schlussapplaus: acht Minuten und kein einziger Versuch, die Sänger noch einmal vor den Vorhang zu locken. Begeisterung sieht anders aus.

War das eine gelungene Premiere? Die gröbsten Missgriffe der Inszenierung werden sich im Opernalltag abschleifen, die Protagonisten werden ihre Nervosität schnell und routiniert überwinden. Dann könnte diese Hamburger "Lucia" schon bald wenigstens musikalisch das Belcanto-Highlight werden, von dem Simone Young träumt.

Deutschlandradio Kultur sendet die Premieren-Aufzeichnung "Lucia di Lammermoor" am 23. Januar 2010 um 19.05 Uhr.